Leicht fällt es nicht, die Handlung von Doktor Schiwago zusammenzufassen. Die äußere Struktur von Boris Pasternaks Roman folgt der Lebensgeschichte seines Titelhelden. Wer die wohl berühmteste Verfilmung kennt, könnte annehmen, dass die große Liebe zwischen ihm und Lara Feodorovna dabei im Zentrum steht. Doch diese ist lediglich ein Puzzlestück von vielen, die gleichwertig nebeneinander stehen. Erst in ihrer Gesamtheit entfaltet sich die ganze Wirkung, denn es werden zahlreiche Schicksale, philosophische und politische Betrachtungen sowie die wechselvolle Geschichte Russlands (Revolutionen, Kriege) zu einem Kaleidoskop der Zeit verbunden.1958, dem Jahr, in dem Pasternak den Literaturnobelpreis erhalten sollte, ihn jedoch aus politischen Gründen ablehnte, fand sich eine namhafte Riege deutscher Schauspieler und Schauspielerinnen (u.a. Bernhard Minetti, Klaus Jürgen Wussow u.a.) zusammen, um unter der Regie von Otto Kurth eine Hörspielproduktion von Pasternaks bekanntestem Werks zu realisieren. Zugegebenermaßen sind ihre Namen heute wenig bekannt, was ihr Können jedoch nicht schmälert und welches sie in diese Produktion einfließen ließen.Am Anfang mag man wegen ihrer etwas gekünstelten und/oder pathetischen Betonung der Wörter und Sätze ein bisschen fremdeln. Auch Pasternaks für unsere Ohren etwas altmodisch klingender Stil trägt seinen Teil dazu bei. Man sollte die Flinte aber nicht ins Korn werfen! Je länger und je mehr Kapitel man am Stück hört, umso mehr nimmt der Erzählfluss zu und ein Sog setzt ein, dem man sich nur schwer entziehen kann. Durchgehend hält Pasternaks Stil dabei eine Distanz zu den Personen und Geschehnissen aufrecht. Weniger eindringlich ist die Handlung dadurch nicht, sondern ihre Tiefe und Bedeutung wird hervorgehoben. Gleichzeitig mildert die Umsetzung als Hörspiel bzw. der Einsatz menschlicher Stimmen die Distanz wieder ab.Ludwig Cremer kann als Doktor Schiwago viele Facetten zeigen und tut das auch glaubwürdig. Das gilt genauso für fast alle übrigen Beteiligten und davon gibt es viele. Man muss sich schon etwas konzentrieren, um sie immer richtig zuzuordnen. Eine kleine Ausnahme stellt Joana Maria Gorvin als Lara dar. In ihrer Stimme schwingt ein geringfügiger Dialekt mit. Das ist ein bisschen irritierend, weil ihre Figur ja die gleiche Herkunft wie alle anderen hat, aber als einzige so klingt, als stamme sie wirklich aus Russland.Die Bezeichnung ¿Hörspiel¿ trifft das Wesen der Produktion nur bedingt, denn eher handelt es sich um eine Lesung mit verteilten Rollen. Ein Klangteppich, der die Handlungsorte und Atmosphäre lebendig werden ließe, ist nicht vorhanden. Leider ist man sich jeder Zeit bewusst, dass es sich um eine Studioproduktion handelt. Es wäre wirklich großartig, wenn noch mal ein vollwertiges Hörspiel mit den heutigen technischen Möglichkeiten hergestellt werden würde.Inwieweit der ursprüngliche Stoff für diese Produktion gekürzt wurde, lässt sich nur im Vergleich mit dem Buch herausfinden. Dass Kürzungen vorgenommen werden mussten, um den Romaninhalt auf knapp vier Stunden Hörspiel einzudampfen, ist offensichtlich. Schaden tut es dem Unternehmen nicht. Abgesehen vom Gesamtumfang sind wahrscheinlich auch die hier und da eingefügten philosophischen und politischen Exkurse gekürzt worden. Zur Geschichte tragen sie nur bedingt bei, sind mal mehr mal weniger interessant.Es ist toll, dassder Hörverlag es möglich gemacht hat, diesen Hörspielschatz von 1958 kennenzulernen. Das Lesen des Romans können die vier CDs natürlich nicht ersetzen, aber sie geben einen Überblick über die Geschichte und wecken die Neugier darauf. Die etwas über vier Stunden Spielzeit erfordern Konzentration, sind interessant, abwechslungsreich und hintergründig. In jedem Fall lernt man viel über die menschliche Natur und die Willkür und Brutalität des Krieges.Vielen Dank an den Hörverlag und das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Die Rezension reflektiert natürlich nichtsdestotrotz voll und ganz meine eigene Meinung.