Der Italiener Matteo Bianchi erzählt in seinem autobiografischen Roman "Von dem, der bleibt" vom Suizid seines Ex-Partners, der sich in der gemeinsamen Wohnung erhängte, obwohl die beiden zu dem Zeitpunkt schon getrennt waren. Aber es geht weniger um den Täter selbst, als vielmehr um die Hinterbliebenen, die zurückbleiben mit all dem Schmerz und den vielen Fragen, die solch eine Tat aufwirft. Warum scheidet ein Mensch selbstbestimmt aus dem Leben?! Vor zwanzig Jahren stand Bianchi mit dieser Frage so ziemlich alleine dar, denn der Mann, der einst Frau und Kind für Bianchi verließ, hat sich durch seinen Freitod dafür entschieden, Bianchi mit dieser Frage im Ungewissen zu lassen. Ein Telefongespräch zwischen den beiden entpuppt sich als Abschied für immer: "Wenn du wiederkommst, bin ich schon nicht mehr da". Bianchi versteht diesen Satz als lapidare Information, ein folgenschweres Missverständnis, dass ihn noch lange beschäftigen wird. Noch immer gilt Suizid als Tabuthema, deswegen mangelt es auch an Hilfsangeboten, vor allem für Hinterbliebene. Als Medizinerin und nach langjähriger Tätigkeit im Rettungsdienst könnte ich fast selbst ein Buch über dieses Thema schreiben. Fast immer erwischt es die Angehörigen kalt und sie haben so gar nicht mit dem plötzlichen freigewählten Tod des geliebten Menschen gerechnet. Es ist für alle Beteiligten stets eine Ausnahmesituation, denn sowas wird auch nach Jahren und zahlreichen (unterschiedlichsten!) Suiziden nicht zur Routine. Es ist für mich das erste Buch, das literarisch die Hinterbliebenen in den Vordergrund stellt und nicht den Suizidanten und wie ich finde, eine großartige Idee des Autoren Matteo Bianchi.Ein wahrer Albtraum entfaltet sich 1998 für Bianchi mit dem Suizid seines Expartners "A.". Wie groß muss die Verzweiflung eines Menschen sein, wenn er als einzige Lösung seiner Probleme den Freitod sieht?!Nach sieben Jahren Beziehung trennte sich Bianchi drei Monate zuvor von A. - hätte er es auch getan, wenn er sich nicht getrennt hätte?! Schuldvorwürfe plagen ihn und er denkt darüber nach, ob nicht ein Suizid auch für ihn eine Lösung wäre:"Wenn dir eine solche Tragödie widerfährt, dann willst du nur noch Schluss machen. Dich von allen und allem entfernen, der Qual auf einen Schlag ein Ende setzen. Und genau das ist das Einzige, was du nicht tun kannst."Zwanzig Jahre bastelte er an "Von dem, der bleibt" und 2024 kommt es endlich zur Veröffentlichung des Buches. Bianchi möchte damit vor allem zu einer Enttabuisierung des Suizids beitragen und auf den Mangel an Hilfs- und Präventionsangeboten aufmerksam machen, denn lange wusste er selbst nicht, wohin mit sich und fühlte sich schrecklich einsam und ausgegrenzt als Hinterbliebener eines Suizid-Toten. Viele Streifzüge durch Psychiatrien und einige Therapien später hat Bianchi Leidensgenossen in einer Selbsthilfegruppe gefunden, die in der Lage waren, seinen Schmerz zu lindern. Er rechnet uns vor, dass statistisch gesehen, alle 40 Sekunden ein Mensch Suizid begeht (weltweit) - wie erschreckend, oder?! Absolut selbstkritisch hinterfragt er seinen Opferstatus und möchte vor allem eins nicht : eine weitere Moraldebatte anzetteln! Zur Überwindung seines Traumas und der damit verbundenen Schuldgefühle sieht Bianchi ein Zusammenspiel aus Hilfeannahme und Eigeninitiative von Nöten: "Ist es möglich, einfach zu sagen: genug gelitten, jetzt fange ich wieder an zu leben? Bei mir war es so. Als würde man einen Schalter umlegen. Ich habe auf 'Ein' geschaltet, und die Lichter gingen wieder an."War es nun ein Rückblick auf sein Leben oder vielmehr ein Tagebuch, ein Gedankenprotokoll oder eher ein journalistischer Recherchebericht, den Matteo Bianchi hier mit "Von dem, der bleibt" verfasst hat?!Ich würde sagen, es war ein äußerst gelungener Mix aus diesen Dingen und ich bin dem Autoren dankbar, dass er sich die Zeit genommen hat (20 Jahre!) sich so intensiv mit seinen Erfahrungen als Suizid-Hinterbliebener auseinanderzusetzen. Denn ich denke, es gibt sicherlich viele Leser*innen, die dieses Buch brauchen und die es hoffentlich zur richtigen Zeit finden. Ich hoffe, ich habe durch meine ausführliche Rezension meinen Anteil dazu beigetragen, auf das Buch aufmerksam zu machen und wünsche mir, dass es den Weg in die richtigen Hände findet!