Eine Frau geht durch den Wald, und alles, was sie vergessen will, kehrt zu ihr zurück. So nähert sie sich Atemzug für Atemzug dem sechzehnjährigen Mädchen, das sie einmal gewesen ist. Der erste Kuss auf einer Party. Der erste überwältigende Rausch, der den Körper so leicht werden ließ. Die Mutter, die mit Argusaugen über sie wacht und ihren unbändigen Lebenshunger kontrolliert. Der Vater, der sich immer weiter distanziert.
In ihrem neuen Roman, der mit dem wichtigsten Literaturpreis Norwegens, dem Kritikerpreis, ausgezeichnet wurde, kehrt Vigdis Hjorth zu ihren großen Lebensthemen zurück: Sie erzählt vom schmerzhaften Kampf einer jungen Frau gegen das Geheimnis einer Familie, vom Ringen um die eigene Wahrheit und davon, dass manche Erinnerung einen so lange heimsucht, bis neues Erkennen möglich ist. Ein essenzielles, universelles Buch von der bedeutendsten Gegenwartsautorin Norwegens.
Besprechung vom 11.03.2025
Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück
Falsche Fassaden: Vigdis Hjorths Roman "Wiederholung" erzählt von den Folgen eines verdrängten Inzests
Schon im Titel ihres Romans bezieht sich Vigdis Hjorth auf Søren Kierkegaard, der 1843 in seinem Werk "Wiederholung" über den Zusammenhang von Erinnerung und Wiederkehr nachdachte. Hjorth lässt 180 Jahre später eine gefeierte Schriftstellerin wie jedes Jahr zu Weihnachten das Konzert der Osloer Philharmoniker besuchen und dort auf ein Ehepaar treffen, das an seiner halbwüchsigen Tochter herumnörgelt. Der Anblick dieser gleichzeitig miteinander verbundenen und übereinander unglücklichen Menschen beim Konzertritual setzt die Erinnerungsmaschine in Gang.
Die Vorstellung, dass verschüttete Erlebnisse in uns weiterleben und irgendwann mit aller Macht an die Oberfläche drängen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk der norwegischen Autorin. "Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück, es sucht dich heim, so wahrhaftig, dass du das Gefühl hast, es noch einmal zu durchleben", lautet der erste Satz ihres Romans, "du kannst es nicht verhindern oder dich gegen den nun folgenden Schmerz schützen, also bist du gezwungen, auch ihn noch einmal zu erleben."
Nur 160 Seiten umfasst "Wiederholung", auf denen Hjorth dennoch wie unter einem Brennglas all die Themen versammelt, die sie zur bekanntesten und umstrittensten Autorin ihrer Heimat gemacht haben: Familienkonflikte, Lebenslügen, verlogene Fassaden. Mit "Ein falsches Wort" forderte sie 2016 die literarische Öffentlichkeit Norwegens heraus, die ihren Roman über die Lüge einer Familie als reale Literatur las. Prompt wurde der Text zum Gegenstand mehrerer Gerichtsverfahren und provozierte Hjorths jüngere Schwester 2017 zu einem Gegenbuch. In "Die Wahrheiten meiner Mutter" (2021) steht die betagte Mutter im Mittelpunkt, zu der die Protagonistin seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hat und die sie im Oslo der Gegenwart ausspioniert. "Wiederholung" kehrt nun fast vier Jahrzehnte zurück in jene grauen Novembertage des Jahres 1975, als der Verdacht des sexuellen Missbrauchs durch den Vater erstmals offenbar wird.
Die Erzählerin ist bereits eine etablierte Schriftstellerin, als sie sich an ihr früheres sechzehnjähriges Ich erinnert, das mit seinen Eltern und den drei Geschwistern in Oslo lebt. Aber nur sie wird von der Mutter mit Argusaugen kontrolliert. Sie bewacht jeden Schritt der Tochter, lauscht an der Tür, riecht an der Kleidung, durchsucht ihr Zimmer und nimmt sie ins Kreuzverhör. Hjorth zeichnet das Bild einer kalten, narzisstischen Mutter, die jedoch nicht etwa besorgt ist, ob ihre Tochter raucht, trinkt, Drogen nimmt oder sich mit Jungs einlässt. Die Wahrheit wird allerdings erst der erwachsenen Tochter erinnernd bewusst. Das Kontrollbedürfnis der Mutter gründet auf der Angst, dass die Tochter ein für Inzestopfer typisches Verhalten an den Tag legt und sich damit der Verdacht, dass sie vom Vater belästigt wurde, bestätigt.
Als diese ihre Eltern Jahrzehnte später mit dem Verdacht konfrontiert, wird sie der Lüge bezichtigt. Wie in "Ein falsches Wort" wird auch in "Wiederholung" die Tochter auf dem Altar der Sippe geopfert, die ihr Scheinspiel einer glücklichen Familie ungestört fortsetzen will. Wie sehr das mütterliche Misstrauen das Mädchen erschüttert, schildert Hjorth mit beklemmender Intensität. Die ahnungslose Sechzehnjährige glaubt bald selbst, dass mit ihr etwas nicht stimmt und sie eine Katastrophe in sich trägt. Sie entwickelt Strategien und ein gesteigertes Bedürfnis, Tabus zu brechen, beginnt zu trinken, schleicht sich mit ihren Freundinnen Unni und Helle an verbotene Orte, besucht heimlich Partys und lernt dabei Finn kennen, mit dem sie ihren ersten unbeholfenen Geschlechtsverkehr hat, den sie später im Tagebuch erotisch überhöht. Als die Mutter die Aufzeichnungen findet und dem Vater zeigt, bricht ein Sturm los.
"Wiederkehr" zeichnet anhand der namenlosen Hauptfigur die Erfahrungswelt einer jungen Frau glaubhaft nach. Im letzten Teil befinden wir uns wieder in der Gegenwart der erwachsenen Erzählerin, die den Kontakt zu ihren Eltern längst abgebrochen hat, sich aber immer noch fragt, wie sie mit dem Wissen um den Inzest leben und zusammenbleiben konnten. Erinnert sich der Vater noch daran? Ist die Mutter aus Angst vor den Folgen eines Lebens als Alleinerziehende mit vier Kindern, ohne Geld und ohne Ausbildung beim Vater geblieben? War ihr Verhalten gar Zeichen erotischer Rivalität? Oder ist die Erinnerung selbst manipuliert, sodass nicht der Inzest, sondern die Lieblosigkeit der Mutter das Tabu im Leben der Tochter ist?
Mütter, die sich anders verhalten, als man von ihnen erwartet, ziehen sich durch Hjorths gesamtes Werk, von der gütigen, aber trinkenden Mutter in "Was ist mit Mutter los?", das 2000 erschien und nicht auf Deutsch vorliegt, über die abweisenden Mütter in "Ein falsches Wort" und "Die Wahrheiten meiner Mutter" bis zum aktuellen Buch, in dem das vielleicht größte Muttertabu thematisiert wird: der Hass auf das eigene Kind.
Die Erkenntnis, dass die Mutter ihr Kind zugunsten eines Lebens in Sicherheit verraten hat, ist der Schockmoment, der diese Prosa grundiert. Doch sie malt das nicht aus oder provoziert wie in früheren Büchern. Was "Wiederkehr" so beunruhigend macht, ist der nüchterne, fast monochrome Ton der Erzählung. Es bleibt unklar, ob die Mutter den Anschuldigungen der Tochter misstraut oder sich ihr eigenes Versagen, ihr Kind nicht beschützt zu haben, nicht eingestehen kann. Ihr liebloses Verhalten hat dabei den paradoxen Effekt, die verdrängte Erinnerung der Tochter überhaupt erst zu aktivieren. Das Unaussprechliche, das die Mutter mit aller Macht zu verdrängen suchte, kommt so ans Licht.
Der sexuelle Missbrauch, der auch in früheren Büchern angedeutet und von anderen Familienmitgliedern bestritten wird, schwebt über dieser Prosa wie eine Herbstwolke, die den Winter ankündigt. Doch sollte man sich davor hüten, von dieser Fiktion auf die Realität zu schließen. So, wie die Sechzehnjährige in ihrem Tagebuch den misslungenen Geschlechtsverkehr zu einer ekstatischen Erotikszene umschreibt, lässt uns Vigdis Hjorth verstehen, dass auch sie als Schriftstellerin den Stoff der Wirklichkeit entrissen hat, um ihn neu zu erfinden. SANDRA KEGEL
Vigdis Hjorth: "Wiederholung". Roman.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025. 160 S., geb.
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