Vier Frauen, vier Leben und die Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Liebe und Selbstbestimmung. Der lang erwartete neue Roman von Chimamanda Ngozi Adichie. Spiegel-Bestsellerautorin, literarischer Superstar und feministische Ikone.
Chiamaka ist Reiseschriftstellerin, navigiert zwischen ihrer nigerianischen Heimat und ihrem amerikanischen Zuhause und versucht, sich im Rückblick auf die Männer ihres Lebens zu erklären, wann genau ihr ihre Träume abhandengekommen sind.
Zikora ist Anwältin und lebt in Washington D. C. Sie hat Erfolg und sich schon vor langer Zeit von ihrer Mutter distanziert; bis sie - plötzlich selbst Mutter und alleinerziehend - merkt, wie nahe sie ihr in ihrer vermeintlichen Schwäche ist.
Omelogor lebt in Nigeria. Als Bankerin hilft sie, Korruption zu verschleiern, aus Idealismus versucht sie, Frauen und ihre Unternehmen zu fördern. Doch eines Tages kündigt sie ihren Job, um in den USA zu studieren.
Kadiatou ist Chiamakas Haushälterin. Außerdem arbeitet sie in einem Hotel, wo ein mächtiger Gast sie schwer belästigt. Ein entwürdigender Prozess von Beweisaufnahme und Verfahren beginnt, in dem alles im Zentrum steht, nur nicht Kadiatous Schicksal.
Mitreißend, dringlich und klug spannt Chimamanda Ngozi Adichie über Kontinente hinweg die Geschichten von vier Frauen, die einander immer wieder die Hand reichen, und erzählt wie keine andere von existentieller weiblicher Erfahrung, die oft in den ganz kleinen Augenblicken zutage tritt: im Schwangerschaftstest auf dem Badewannenrand, in Tagträumen nach einem Augenkontakt im Flugzeug, im Warten auf einen Anruf oder im Moment plötzlich zusammengenommenen Mutes. Ein wegweisender, gegenwärtiger Roman über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Frauen in einer Welt, die es immer noch schwer macht, sich zusammenzutun. Zehn Jahre nach dem Weltbestseller »Americanah« der neue große Roman von Chimamanda Ngozi Adichie.
Besprechung vom 02.03.2025
Genug geträumt
Zwölf Jahre nach "Americanah" erscheint endlich ein neuer Roman von Chimamanda Ngozi Adichie: "Dream Count". Eine große Geschichte der Solidarität unter Frauen.
Von Tobias Rüther
Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt. Manchmal hegen wir jahrelang Sehnsüchte, die wir nicht benennen können, bis sich ein Riss im Himmel auftut, durch den wir uns selbst erkennen, wie eine Offenbarung - so wie in der Pandemie, denn während des Lockdowns fing ich an, mein Leben zu durchforsten und den lange Zeit unbekannt gebliebenen Dingen Namen zu geben."
Damit beginnt es, nach zwölf Jahren Warten, das sind die ersten Sätze aus "Dream Count", dem neuen Roman der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Und sobald man ihn fertig gelesen hat, fünfhundert Seiten später, versteht man diesen Anfang besser. Hat bis dahin begriffen, dass dieses "Erkanntwerden", von dem Chiamaka hier spricht, eine der vier Hauptfiguren des Romans, kein Jargon der Paartherapie ist: Es ist der Schlüssel zu so gut wie allem, was menschliches Zusammenleben angeht: in der Politik, in der Gesellschaft, im Bett. Chimamanda Ngozi Adichie hat zu all diesen Sphären etwas zu sagen in diesem neuen Roman, auch zur Corona-Pandemie, auf die er zuläuft, ohne dass diese dann aber wirklich eine Rolle spielte. Am Ende aber ist die Lösung, die sie anbietet, Einfühlung und Wachsamkeit. Und so abgedroschen das klingt, so abwesend ist beides in den gegenwärtigen Diskursen.
Zwölf Jahre hat es also gedauert bis zu "Dream Count". Zwölf Jahre, seit Adichie 2013 mit ihrem dritten Roman "Americanah" zum Star wurde. Der neue erscheint jetzt zur gleichen Zeit weltweit - was immer ein Zeichen für den Status einer Autorin oder eines Autors ist. In den zwölf Jahren ist Adichie weiter auf dieser Welt unterwegs gewesen, eine nigerianische Intellektuelle, ausgebildet in den Vereinigten Staaten, deren Stimme überall gehört wird, auch wenn sie dabei nicht unumstritten ist, aber dazu später mehr. Sie ist zur Repräsentantin geworden für die kontinuierlichen Verschiebungen und Erweiterungen der kulturellen Zentren der Welt, auch wenn für Adichie die geistige und popkulturelle Dominanz der Vereinigten Staaten ein Reizthema bleibt, Bezugspunkt, Feindbild. Adichie lebt mit ihrer Familie im Wechsel in Baltimore und Lagos.
"Americanah" las sich 2013 wie der erste Weltbestseller eines neuen und gewachsenen Bewusstseins um kulturelle Differenzen und die Kraft der Zuschreibungen. Die Identitätspolitik war endgültig über den Uni-Campus hinausgelangt, hatte die öffentlichen Debatten erreicht - und "Americanah" passte dazu, erzählte, total unterhaltsam, aber auch schön böse die Geschichte der jungen Nigerianerin Ifemelu, die ihr Land zum Studium in den USA verlässt, um schließlich wieder zurückzukehren, unentwegt im Ringen um ihre Autonomie, intellektuell, politisch, sexuell.
Meist erklären Ifemelu auf ihrem Weg weiße linke Männer, wer sie ist. Ifemelu wiederum, und das ist ein zentrales Moment in "Americanah", erkennt, dass sie erst zu einer Schwarzen geworden ist, als sie ins Flugzeug Richtung Princeton steigt. Bis dahin war sie ein Kind der nigerianischen Oberschicht gewesen. Im Westen ist sie anderen Blicken ausgesetzt, selbst von jenen, die keine Hautfarben zu erkennen vorgeben.
"Dream Count" ist jetzt ein ganz ähnliches Buch geworden, in Stoff und Stil, Adichies leuchtend klare, mal elegische, mal bitter genaue Prosa zieht einen durch diesen langen, langen Text. Es geht um vier Frauen, drei aus Nigeria, eine aus Guinea, alle mit amerikanischen Verbindungen oder Pässen - Ifelu könnte auch diesmal wieder eine von ihnen sein. Drei der Frauen, Chiamaka, Zikora und Omelogor, kommen aus privilegierten Verhältnissen in Nigeria, Kadiatou vom Dorf in Guinea. Ihren vier Lebensgeschichten widmet Adichie jeweils einen eigenen Teil des Romans, der sich aber von der ersten Seite an liest wie ein einziger Strom ineinandergeflochtener Informationen über alle vier. Reden zwei Frauen miteinander - und es wird viel geredet in diesem Roman, in Bars, am Telefon, in Videocalls - , sind die abwesenden beiden anderen irgendwann Gegenstand des Gesprächs. Die eine eigentliche Hauptfigur gibt es nicht. Dafür aber starke Leitmotive. Und dazu gehört das Kinderkriegen, als echter Wunsch oder als gesellschaftlich verordnetes Lebensziel einer Frau, dazu gehört auch Liebe oder was diese Frauen dafür halten, gehören die Männer in ihren Leben. Aber das stärkste Motiv ist, wie sie sich mit diesen Männern und immer wieder gegen sie in ihrer Autonomie behaupten müssen. Auf diese vier Frauen kommen zwanzig Typen, die auftauchen und wieder verschwinden; man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass keiner bleibt.
Seit "Americanah" 2013 erschien, ist im Leben und Arbeiten von Chimamanda Ngozi Adichie eine Menge geschehen. Sie bekam Kinder. Ihre Eltern starben, sehr kurz hintereinander, darüber schrieb sie auch. Der neue Roman ist jetzt ihrer Mutter gewidmet. Aber die Feministin Chimamanda Ngozi Adichie, so oft zitiert, so oft zum Vorbild genommen, wurde auch zum Fall. In einem BBC-Fernsehinterview hatte man sie 2017 befragt, ob eine Trans-Frau "any less than a real woman" sei, und Adichie hatte geantwortet: "Es geht nicht darum, wie wir unser Haar tragen oder ob wir eine Vagina oder einen Penis haben. Es geht darum, wie die Welt uns behandelt. Und ich glaube, wenn du als Mann mit den Privilegien gelebt hast, die diese Welt Männern zuerkennt, und dann irgendwie dein Gender änderst, dann fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass wir deine Erfahrung mit der Erfahrung einer Frau gleichsetzen, die von Anfang an als Frau gelebt hat und der diese Privilegien nicht zuerkannt wurden."
Darauf folge der klassische Shitstorm, Adichie erläuterte ihre Position, wehrte sich, unterstrich, dass sie für Trans-Rechte eintritt, aber der Skandal war da. Um ihre Position zu verstehen, die man gar nicht teilen muss, darauf hatte Adichie auch nicht bestanden, muss man nur "Americanah" lesen. Und auch im neuen Buch wird wieder deutlich, wie stark es dieser Autorin in ihrem schriftstellerischen Werk darum geht, die Entwertungen und Herabwürdigungen, die Frauen erleben, zu markieren, den Blick erkennbar zu machen, der auf sie fällt wie ein Urteil. Vermutlich wird in allen Kritiken über "Dream Count" diese Geschichte erwähnt werden, die Adichie apodiktischer im Ton gemacht hat, vielleicht wird es Kritiken geben, die nachzählen, wie divers dieser Roman besetzt ist - es gibt eine schwule Nebenfigur und Sexpartys von Frauen mit Frauen. Und jetzt hat auch diese Kritik das getan, also: mitgezählt. Aber das ist, ironischerweise, tragischerweise, dann auch nur ein Beweis für den Punkt, den Adichie immer wieder gemacht hat in ihrem literarischen Werk: wie die Wahrnehmung eines Menschen geprägt ist von im Umlauf befindlichen Zuschreibungen und diese Zuschreibungen umso ungenauer werden, je mehr sie auf Programmen und Reflexen beruhen. Die nigerianische Feministin Chimamanda Ngozi Adichie, deren empowernde Sätze als Zitatkacheln auf Insta kursieren, steht im Verdacht. Sie hat ein Ideal enttäuscht, das für sie selbst, wie sie beteuert, gar nicht gilt.
"Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt", sagt also Chiamaka, genannt Chia, die Reisejournalistin, auf der ersten Seite von "Dream Count". Dass der Roman, bis auf wenige Passagen, mit denen man dann doch gerechnet hat, auf explizite Attacken gegen Wokism und Cancel Culture verzichtet - daraus kann man schließen, dass Adichie versucht, ihre Prosa frei zu halten von ideologischen Debatten (die sie dann an anderen Stellen natürlich führt). "Dream Count" ist nicht frei von maliziösen Abrechnungen mit akademisch-wokem Jargon, aber wie in "Americanah" behält der Roman sie komischen Dialogen vor.
Chia, die in den Vereinigten Staaten als Reisejournalistin lebt, ist an der Uni lange unglücklich in den Afroamerikaner Darnell verliebt, den man "den Denzel Washington der akademischen Welt nennen" könnte, "für seine Kunstgeschichtskurse gäbe es lange Wartelisten", der sich aber ein Bild von Chia gemalt hat, in dessen Rahmen sie nicht passt. "Er wollte, dass ich ungewöhnlich bin, interessant, und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was das bedeutete." Ständig geraten sie aneinander, ihre Familie ist einfach zu reich, um für ihn eine echte afrikanische zu sein, was auch immer das bedeutet, und seine Demütigungen ("Chia, reiß dich zusammen", sagt er einmal, "die Leute denken, ich hätte dich zum Weinen gebracht") sind aus dem Lehrbuch passiv-aggressiver Beziehungsdressur. Irgendwann schafft sie es dann, ihn zu verlassen, in Paris, das er nur "wegen James Baldwin" liebt, nicht "aus einem der üblichen Gründe". Und Darnell wird zugleich der nächste Eintrag im "Dream Count" Chias, wieder ein Traum, verpufft und ausgeträumt.
Zikora ist alleinerziehende Anwältin, Kadiatou Chias Haushaltshilfe, Omelogor, Chias Cousine, arbeitet in einer Bank in Lagos, nachdem sie ihr Kulturwissenschaftsstudium in den USA abgebrochen hat. "Ich interessiere mich für Pornographie als Aufklärungsmaterial", hat sie ihrer Professorin damals gesagt. "Sie lächelte dünn, als wollte sie sagen: Bitte, bleiben wir doch ernst. Ich erklärte ihr, dass es mir darum ging zu fragen, wo und wie wir etwas über Sex lernen, und schon sprach sie wieder, viel, und ich hörte andauernd das Wort 'Befreiung'. Alles, was sie sagte, war weich und bekam Dellen, wenn man es berührte." Stattdessen kehrt Omelogor also nach Nigeria zurück, beginnt einen Blog über Sex und Beziehungen, "For Men Only", dessen Einträge mit dem Mantra "Denkt daran, liebe Männer, ich bin auf eurer Seite" enden - und zweigt in ihrer Bank Gelder ab, die sie als Mikrokredite an nigerianische Frauen weitergibt.
Omelogor ist die interessanteste der vier Frauen, jedenfalls hat man das Gefühl, dass auch die Schriftstellerin, die sie sich ausgedacht hat, das so sieht. Chia, die nigerianische Reisejournalistin, ähnelt in manchen Elementen Adichie selbst: "Ich will leichte, lustige Reiseberichte schreiben", erklärt Chia einmal ihrem damaligen Freund Chuka, "und für sie bin ich nur eine Afrikanerin, die über Kämpfe schreiben soll.' 'Das Problem ist, dass viele dieser weißen Leute nicht verstehen, dass auch wir träumen', sagte er. Ich starrte ihn erstaunt an. 'Ja', sagte ich. 'Ja, genau.'" Chuka wird trotzdem ein weiterer Eintrag im "Dream Count".
Die bewegendste Geschichte in diesem Roman aber erzählt von Kadiatou, und sie beruht auf wahren Ereignissen. Kadiatou stammt aus Guinea, sie ist als Mädchen beschnitten worden, ihr Mann wird umgebracht, mit ihrer Tochter folgt sie ihrer Jugendliebe in die USA, beantragt Asyl, beginnt ein selbstbestimmtes Leben für sich und Binta, bekommt eine Stelle als Reinigungskraft in einem New Yorker Hotel - und dann, eines Tages, betritt sie beim Housekeeping die Suite eines mächtigen, weißen Mannes. Er fällt über sie her und zwingt sie zum Oralsex. Die Hotelleitung holt die Polizei, Kadiatou, beschämt, wütend, verletzt, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit und danach, kein Aufsehen zu erregen, gerät in die Mechanismen des amerikanischen Justizapparats. Am Ende wird das Verfahren eingestellt, die Staatsanwaltschaft spricht zwar von zwingenden Beweisen, "aber weil sie nicht ehrlich und offen über ihre Vergangenheit gesprochen hat, könnten sie ihr nicht vertrauen und glauben vor allem nicht, dass eine Jury es täte". So berichtet es Zikora den beiden anderen Frauen.
Kadiatous Geschichte ähnelt, man erkennt es gleich, der von Nafissatou Diallo, einer Angestellten eines New Yorker Hotels, gebürtig aus Guinea, die Dominique Strauss-Kahn, damals Direktor des Internationalen Währungsfonds, der sexuellen Nötigung beschuldigt hatte. Das Verfahren wurde eingestellt. Chimamanda Ngozi Adichie hatte über den Fall geschrieben, jetzt hat sie ihn noch einmal literarisch verarbeitet. "Ein Opfer muss nicht perfekt sein, um Gerechtigkeit zu verdienen", so kommentiert sie in ihrem Nachwort in eigenen Worten die wahre Geschichte von Nafissatou Diallo. Wie sie in diesem Roman des solidarischen Zusammenhalts von Frauen die Szene beschreibt, in der Kadiatou vom Ausgang des Verfahrens erfährt, ist schwer zu vergessen - und macht etwas sichtbar, was nur die Literatur sichtbar machen kann.
Chimamanda Ngozi Adichie, "Dream Count". Aus dem Englischen übersetzt von Asal Dardan und Jan Schönherr. Verlag S. Fischer, 528 Seiten
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