Besprechung vom 07.04.2019
Jeder hat sein Ithaka
Ein Umweg über die "Odyssee": Der amerikanische Publizist Daniel Mendelsohn hat ein nahezu klassisches Buch über seinen Vater und über Homers Epos geschrieben
Eines Tages bittet ein Vater seinen Sohn, an dem Seminar teilnehmen zu dürfen, das der Sohn in der Universität über Homers "Odyssee" angekündigt hat, jene Geschichte, die von der über Jahrzehnte sich hinziehenden Rückkehr eines Mannes in seine Heimat und zu seiner Familie erzählt. Er kommt mit dem Auto, er kommt mit dem Zug, er übernachtet bei seinem Sohn und fährt am nächsten Tag wieder nach Hause zurück. Ein Semester lang sitzt er unter einer Handvoll Studenten, denen der Sohn das antike Epos nahezubringen versucht. Die Studenten lernen nicht nur Homer, sondern auch den eigensinnigen Alten schätzen, der am Rand, mehr an der Wand, seinen Platz gefunden hat, nicht am Tisch bei den Jungen. Er hört nicht nur zu, er mischt sich in die Diskussion ein, er sagt sofort, was er denkt, er sagt, dass er nicht verstehe, wieso Odysseus ein Held sein soll. Greifen die Götter ihm nicht ständig unter die Arme, wenn er aus eigener Kraft nicht weiterkommt?
Der Einwand klingt wie ein Affront, wie ein Generalangriff, als ginge es dem Alten um etwas Grundsätzliches, als sei eine andere Perspektive, eine ganz andere Einschätzung von Handlung und Ereignis möglich und selbstverständlich. Wie ein Leser einen poetischen Text und eine Lebensgeschichte versteht, hängt davon ab, welche Erfahrungen er gemacht hat, und seien es Erfahrungen mit anderen Texten und anderen Seelen. Der Sohn stutzt, und dann gerät er, vom antiken Epos wie von einer unsichtbaren Hand gestoßen, ins Grübeln über den alten Mann, der sein Vater und doch ihm auch fremd ist, der zu reden angefangen hat und der, ohne dass es seine Absicht ist, mehr zu sagen scheint, als er glaubt, in Worte zu fassen.
Daniel Mendelsohn lebt als Kritiker, Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in New York. Er hat klassische Philologie an der University of Virginia und in Princeton studiert. Sein Buch "Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen" wurde ein internationaler Bestseller. Der Essay über die "Odyssee" ist eine flirrende Mischung aus Familiengeschichte und Lektüreschlüssel, Textanalyse und Lebensdeutung, elegant geschrieben und souverän komponiert. Das nahezu klassische Buch handelt von den notwendigen Mühen und dem Lohn des Verstehens, das den Nachfahren winkt, die den alten Geschichten, auch den eigenen, nicht aus dem Weg gehen und die sich über die Wunden beugen, die sie sich zugezogen haben. Odysseus hielt sich für einen listigen Mann, weil er andere, auch über sich selbst, zu täuschen in der Lage war. Wem konnte er nicht etwas vormachen. Aber eine Narbe am Bein verriet ihn, die von einer Verletzung stammte, die er in Jugendjahren bei einer unbesonnenen Jagd erlitten hatte, ein verräterisches Merkmal, das nicht auszulöschen ist, wie eine Eigenart, die tief in die Seele eingegraben ist, Melancholie, Gefühlsüberschwang, Lebensangst.
Mit der ersten Sitzung über die Abenteuer dieses Helden beginnt eine Erkundungsfahrt, dorthin, wo Motive, Gründe und Anfänge liegen für Rätsel, aus denen Beziehungen und Familienbande, kindliches Leid und große Wünsche gemacht sind. Ohne das Gespräch über die "Odyssee", die auch ein Buch über Identität ist, wäre es zu der späten Begegnung zwischen Vater und Sohn nicht gekommen. Der Umweg durch die griechische Dichtung erweist sich als ein Versuch, den Heimweg anzutreten, im anderen sich selbst zu verstehen. Kunstvoll und spannend verwebt Daniel Mendelsohn mehrere erzählerische Ebenen: die tastende Auslegung eines archetypischen Textes, der sich auf diese sanfte Weise im Leben der Leser einnistet, die Gespräche mit den Studenten, die den Eindruck machen, als wären sie frisch aus dem Ei geschlüpft und ganz ihren unmittelbaren Reaktionen überlassen, und die mäandernden Erinnerungen des Autors an die eigene Kindheit, an einen Vater, der ein in sich gekehrter begabter Mathematiker war, neugierig, fleißig, wissbegierig, und an das begeisterte Studium der Antike. Die Kette der Gelehrten, die sich darum bemühen, die antiken Texte zu verstehen, reißt nicht ab. Die Göttin, die dem Sohn noch Jahrzehnte später bei Auslegungsproblemen hilft, heißt nicht Athene, sie trägt einen bürgerlichen Namen und ist Professorin. Sie hat ihn von Anfang an in der Textanalyse unterwiesen. Mitten im Seminar, dem sein Vater eine unverhoffte Entwicklung zu geben vermag, sucht er ihren Rat. Sie wird ihm, wie ein modernes Orakel, das aus Rauchschwaden und einem Bücherberg heraus spricht, weiterhelfen.
Nach dem Semester werden sich Vater und Sohn auf eine sommerliche Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer einschiffen, um Stätten der "Odyssee" aufzusuchen, Grotten, Ruinen, Strände. Es war ihre letzte gemeinsame Reise. Das Schiff erreichte, anders als Odysseus, Ithaka nicht, es musste, als sich unerwartete Hindernisse auftaten, ein Streik, der eine Weiterfahrt vereitelte, nach Athen umkehren und die Insel, auf der Penelope auf ihren Ehemann wartete, ungesehen hinter sich lassen. Die Enttäuschung über diesen Ausgang, der den Sinn der Reise zunichte zu machen schien, stand den Passagieren ins Gesicht geschrieben. Der schlaue Kapitän wusste sich zu helfen und die Stimmung zu heben. Er bat Daniel Mendelsohn, aus dem Stegreif einen Vortrag zu halten über den berühmten griechischen Dichter Konstantinos Kavafis, der die Ansicht vertreten hatte, das Leben tue grundsätzlich besser daran, nicht zum Ziel zu gelangen, sondern auf Reisen zu bleiben, solange es dazu Kraft hat.
Die Gesichter der Passagiere, kaum dass sie aus der Fixierung auf ein eindeutiges Ziel, aus der Sucht anzukommen, gelöst und wieder in Bewegung gesetzt, auf die Reise geschickt worden waren, hellten sich auf. Ihr Ithaka lag irgendwo, sie konnten sicher sein, dass sie es eines Tages erreichen würden, so wie es dem alten Mann geschah, als er, nach Hause zurückgekehrt, über eine Metallstange stürzte, die irgendwer aus Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters liegen gelassen hatte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und starb dort, Wochen später, an den vertrackten Folgen eines Blutgerinnsels und an körperlichen Schäden, die er sich in den vielen Jahren, als er noch rauchte, zugezogen hatte.
Nicht alles lässt sich verstehen und erklären. Im Dunkel der zeitgenössischen Seele, die von keiner Entscheidung der Götter weiß, ruhen unentdeckt, für manche Interpreten unbewusst, Triebe, Impulse, Leidenschaften. Was an der Oberfläche des Bewusstseins in der Form von vagen, einleuchtenden Motiven aufschimmert, dass schon der Vater Latein in der Schule lernte und Ovid las, aber es nicht zur Meisterschaft brachte, dass der Sohn schon als Kind und Schüler keinen Zugang zur Strenge und Eindeutigkeit der Mathematik fand, das reicht nicht hin, ein Interesse, eine Faszination zu erklären, die eine Biographie prägen. Aus dem Vater wird ein Mathematiker, aus dem Sohn ein klassischer Philologe. Die Geheimnisse, die bleiben, gleichen antiken Schicksalswendungen. Doch wer wollte die Nachforschungen deswegen aufgeben und sich mit Unverständnis zufriedengeben? Es gibt untrügliche Zeichen von Nähe und Vertrauen, eine in Gleichartigkeit ruhende Einigkeit, die nicht in Frage gestellt werden kann, als gehörte sie zu den natürlichen Elementen.
Kaum hatte Odysseus die Freier, die den Palast und seine Frau belagerten, umgebracht, da stellte Penelope ihren Mann auf eine Probe, um sich seiner nach der langen Abwesenheit wieder sicher zu sein. Die beiden teilten ein Geheimnis, von dem nur sie wussten: dass ihr Bett um einen Baum herum gebaut und deshalb unverrückbar war. Für den listigen Odysseus war diese Probe ein Kinderspiel.
EBERHARD RATHGEB
Daniel Mendelsohn: "Eine Odyssee - Mein Vater, ein Epos und ich". Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Siedler, 352 Seiten
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