Besprechung vom 11.02.2025
In Grenzlitz kribbelt die Freiheit
Ostdeutschland-Porträt als eher überfrachteter Roman: Elsa Koesters Wahlvision "Im Land der Wölfe"
Manchmal geht es ganz ohne Dating-App: Wenn die Single-Frau auf einen Kaffee beim attraktiven alleinerziehenden Vater vorbeischneit und in seiner sympathisch unaufgeräumten Doppelhaushälfte zunächst das Herz der coolen Pippi-Langstrumpf-Tochter im Sturm erobert, weiß der Serien-Aficionado, dass so der Anfang von etwas Großem aussehen könnte. Es "hat was mit mir gemacht", gesteht sie später im schönsten Markus-Lanz-Ton, wie der Mann mit seiner Tochter umgeht, wie er redet, was er sagt. Leider hängt in diesem trauten Heim ein Landser-Foto mit der markigen Zeile "Defend Europe" an der Wohnzimmerwand; auf dem Tisch liegt, zwischen Legosteinen, Nutella und Gouda, ein Exemplar "Mit Linken leben" aus dem Schnellrodaer Antaios-Verlag.
Spätestens hier ahnt man, dass es zwischen der in der Wolle gefärbten Berliner Linken Nana und Falk Schloßer, einem Ex-Zeitsoldaten und JVA-Beamten, wohl eher nicht zum romantischen Happy End kommen wird. Was einen mit sanfter Kraft in dieses schon fast filmisch ausgebreitete Setting hineinzieht, ist eine andere Frage: Sollte man angesichts der ein ums andere Mal krachend scheiternden Versuche der Miosgas, Illners und Klamroths, die Weidels und Chrupallas dieser Welt zu "entzaubern", die Faktenchecks kurz beiseitelassen und auf fiktionale Versuchsanordnungen setzen? Kann Literatur quasi als Außenstelle der Bundeszentrale für politische Bildung funktionieren?
Grenzlitz, in Teilen dem real existierenden Görlitz nachempfunden, heißt der fiktive Handlungsort. Hier, am "Rand der Republik, Ende der Welt", sind nach Massenentlassungen und Treuhanddurchstechereien von 73.000 Einwohnern zu Wendezeiten noch 20.000 übrig geblieben; vor allem die Jungen und die Frauen sind gegangen. Nana, die eigentlich Arianne heißt, hat es aus der hippen Hauptstadt in die sächsische Provinz verschlagen, um bei den anstehenden Oberbürgermeisterwahlen Katja Stötzel, der aussichtsreichen Vertreterin der "Zukunftsgrünen", als Coach zum Sieg zu verhelfen. Falk wiederum ist Social-Media-Beauftragter der laut Umfragen führenden "Blauen".
Elsa Koester, die als Journalistin bei der Wochenzeitung "Freitag" auch Reportage-Erfahrungen im Osten gesammelt hat, schildert uns in ihrem zweiten Roman die letzten Grenzlitzer Wochen vor der Wahl aus Nanas Perspektive. Deren anfängliche Begeisterung für die aus der Region stammende Katja Stötzel ist groß: eine Selfmadefrau, die zu Wendezeiten sechs Jahre alt war und als studierte Volkswirtin in die alte Heimat zurückkommt, inklusive rückenfreihaltendem West-Mann und, logisch, fließend dreisprachig (Deutsch, Englisch, Polnisch). Dazu züchtet Katja eigene Schafe, die sie nach Dig, Dag und Digedag, den Helden des Ost-Comics "Mosaik", benennt. Diese Vorzeigekandidatin könnte die erste zukunftsgrüne Oberbürgermeisterin im Osten Deutschlands werden. Um das zu erreichen, versucht Nana, sie aus der Komfortzone der "Lehrerinnen-Stammtische und veganen Cafés" zu holen. Was sie Katja rät, ist schlau: "Deine Superkraft ist, zurück in die Vergangenheit zu reisen (. . .). Die alten Wunden zu schließen, indem du den Respekt, der zur Wendezeit gefehlt hat, rückwirkend bezeugst."
Auch wenn diese Ebene des Romans ein wenig an die Heimatromane einer Juli Zeh und all die Longreads und Dossiers erinnert, mit denen uns Zeitungen und Magazine seit Jahren die ostdeutsche Provinz näherbringen wollen - Koester leuchtet die Grenzlitzer Milieus differenziert aus und schafft glaubhafte Figuren. Wir werden Zeugen enervierender zukunftsgrüner Strategiediskussionen im mit Geflüchteten betriebenen Café "mosaique", erleben die "1-Prozent-Bewegung", eine Art Vorfeld-Organisation der "Blauen", in Aktion und erweitern dabei mit Nana unseren Wortschatz: Bei "Telis" handelt es sich um ausklappbare Teleskopschlagstöcke. Wird Katja Stötzel neue Oberbürgermeisterin, geht Grenzlitz einer klimaneutralen Zukunft entgegen, mit grünem Wasserstoff und Windparks. Eine Baumhaussiedlung gibt es bereits, "Tiny Houses für blättersuchende Städter oben in den Himmel hineingebaut" - sogar mit Komposttoiletten. Der Supermarkt im Dorf, in dem Katja aufgewachsen ist, gerät dagegen zur Zeitreise in die Neunziger: "Gelbes Licht von Neonröhren an der Decke, niedrige Regale, auf denen Shampooflaschen und Seifen stehen, darauf kleben diese alten Preisschilder, diese gelben aus drei Abteilen, 2,89. Hätte mich nicht gewundert, wenn da DM gestanden hätte." Im Zeitungsständer: "Micky Maus", Kreuzworträtsel, Fernsehzeitschriften, ganz vorn "Compact" und "Junge Freiheit".
Völlig frei von Typisierung bleibt Koesters Figurenzeichnung nicht - ganz und gar kein Pappkamerad ist allerdings Falk Schloßer. Sein "Mentholgeruch", sein Carhartt-T-Shirt erinnern Nana auf verwirrende Weise an ihren Freund, mit dem sie in den Neunzigerjahren in Berlin-Lichtenberg "Nazis klatschen" ging. Dass sie sich am Rand der "Dresden nazifrei"-Demos selbst schuldig gemacht hat, erfahren wir erst später. "Das kann man ja niemandem sagen, wie klingt denn das (. . .), dieser Blaue da, der riecht wie mein Tom? Wie die halbe Antifa?" Ein Mannsbild, schwer einzusortieren. Streitet man mit ihm, macht er seine Punkte, auch wenn er - als einzige Figur - bisweilen in unbeholfen angedeuteten Dialekt verfallen muss: Wieso geht Katja Stötzels Tochter in die private "Regenbogenschule", während Falks Tochter Elli die "Grenzschule" besuchen muss, Ausländerquote sechzig Prozent? Wieso war vom Klimawandel noch keine Rede, als Schröder 2002 durch Grimma "gummistiefelte"? Manchmal ertappt sich die von Selbstzweifeln und Ängsten besetzte Nana dabei, Falks einfache Wahrheiten als attraktives Angebot zu empfinden: "Das leichte Kribbeln von Freiheit."
Nach und nach wird klar, dass sich Nana nach einem grundlegenden Zerwürfnis mit ihrem Bruder Noah in den Provinz-Job geflüchtet hat. Ein zweiter Romanstrang, in konsequenter Kleinschreibung und kursiv gehalten, ist eine Art (Fern-)Dialog mit Noah, in dem die Coming-of-Age-Geschichte des Geschwisterpaars in zerrütteten Verhältnissen verhandelt wird. Dass Koester hier neben Antagonismen wie Stadt/Land oder Ost/West auch noch komplexeste Themen wie Klima- und Migrationspolitik oder Fragen der sexuellen Identität einbaut, überfrachtet den Roman unnötig. Wäre das Buch ein Döner, hätte die Bestellung zweifellos "Einmal mit alles!" zu lauten. In den besten, ehrlichsten Momenten kommt Elsa Koester mit den Sonden der Fiktion weiter als die handelsüblichen Reportage-Formate. Am Wahlabend in Grenzlitz ist der blaue Balken der längste. Kurt, ein altgrüner Realo, spendet Trost nach Art der Kalendersprüche: "Der grüne Weg durch schwarzes Land ist lang. Nun ist er eben noch ein Stückchen länger." NILS KAHLEFENDT
Elsa Koester: "Im Land der Wölfe". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2024. 318 S., geb.
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