Besprechung vom 07.07.2021
Die Geschichte kennt kein Schwarzweiß
Francis Neniks "E. oder Die Insel" ist ein verstörender Roman über die Medizinmorde der Nationalsozialisten
"Es ist schwer, nicht einen Roman zu schreiben", notierte der Verleger Siegfried Unseld einmal nach einer Reise zu seinem Autor Thomas Bernhard. Der Mann, der sich Francis Nenik nennt, soeben mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde und den Literaturbetrieb so eisern wie Thomas Pynchon meidet, hielt es bislang überwiegend mit nichtfiktionalen Texten zwischen Essay und literarischer Reportage, wenn er das irrwitzige, "tragikomische 20. Jahrhundert" dingfest machen wollte. Zuletzt erzählte er das lange vergessene Leben des Antifaschisten, DDR-Wirtschaftsfunktionärs und Schriftstellers Hasso Grabner, die Geschichte von Thomas Manns Villa in Pacific Palisades als deutsche Insel mit Ozean-Blick und begleitete die vierjährige Amtszeit von Donald Trump mit einem als Blog geführten Tagebuch, das nach 1461 Einträgen - für jeden Tag der Präsidentschaft einen - zwischen Buchdeckeln endete ("Tagebuch eines Hilflosen"). Neniks literarisches Verfahren zeigt sich jeweils nach wenigen Sätzen: Er schlägt seine Funken aus der Kombination von detektivischer, geradezu versessener Archiv- und Lesearbeit mit einer unstillbaren artistischen Lust an der Sprache.
Nun hat er sich für die Form des Romans entschieden - und für ein noch immer ebenso brisantes wie verstörendes Thema: die Kindereuthanasieverbrechen der Nationalsozialisten, die den Mord an Behinderten und Kranken euphemistisch den "schönen Tod" nannten. Die Universitätskinderklinik Leipzig war die einzige, die sich direkt am Euthanasie-Programm der Nazis beteiligt hat. Unter Leitung des Klinikchefs Werner Catel wurde an den "Kinderfachabteilungen" in der Oststraße und in der Heilanstalt Leipzig-Dösen spätestens seit 1941 systematisch getötet. Noch im März 1945 wurden sämtliche Akten vernichtet; etliche der Täter, darunter Catel, konnten nach Kriegsende unbehelligt weiter Karriere machen.
Das Gedenken an die Opfer führt bis heute zu Verwerfungen. Nachdem das Gelände der ehemaligen Heilanstalt zu einem Wohnquartier entwickelt werden soll ("Parkstadt Dösen"), wollte eine Verwaltungsvorlage verhindern, dass "eine Adressvergabe in einem Wohngebiet nach den ermordeten Kindern vorgenommen wird". Die bizarre Begründung: Kleinkinder könnten traumatisiert werden, wenn sie nach der Bedeutung ihres Straßennamens fragen. Am 23. Juni hat der Leipziger Stadtrat einstimmig einem Änderungsantrag stattgegeben: Eine der neuen Straßen in Dösen wird nach den Geschwistern Steinhausen benannt werden, die mit kaum vier Jahren Opfer der NS-Euthanasie wurden. Siegrid wurde in Dösen ermordet, ihr Bruder Manfred in Pirna Sonnenstein vergast.
Im Roman treffen wir auf einen namenlosen Ich-Erzähler, der sich in den letzten Kriegstagen nahe einer südöstlich von Leipzig gelegenen dörflichen Kleinstadt an der Mulde auf einer Insel im Fluss versteckt. Er beobachtet das Pfarrhaus, in dem er nach dem schweren Bombenangriff auf Leipzig vom Dezember 1943 mit seiner Frau Marie und den drei Kindern Unterschlupf fand. Das Haus ist leer; der Pfarrer wurde, so erfahren wir, wegen regimekritischen Verhaltens verhaftet, von Frau und Kindern fehlt jede Spur. Von jetzt an lesen wir, die Einträge sind datiert, was der Mann im Gebüsch über knapp vierzehn Tage hinweg auf der Rückseite einiger mitgeführter Akten festhält.
Er beobachtet und schreibt, schreibt und beobachtet; es fließt geradezu aus ihm heraus, so als würde hier - anachronistischer Gedanke - ein Schreibtherapieversuch auf einem nagelneuen Notebook begleitet. Bei der Lektüre stellt sich das beklemmende Gefühl ein, im Wörtersee der bis an die Ränder bedruckten Seiten ertrinken zu müssen. Beobachtet und verschriftet werden in Ultra-Slow-Motion Fauna und Flora des Inselverstecks, dazu das angesichts der näherrückenden Fronten in West und Ost gespenstisch heruntergebremste Treiben in der Stadt. In dieser Atmosphäre latenter Bedrohung dient das Schreiben sowohl der Vergegenwärtigung ("Es ist, als kehrte meine Erinnerung erst im Schreiben zurück") wie der Verdrängung ("Jede Zeile, die ich hier notiere, ist ein Akt des Nicht-wahrhaben-Wollens"). Zugleich wird eine Fährte gelegt, der man nur zu gern folgt: Wenn jemand in diesen letzten Tagen des NS-Reichs auf der Flucht ist, sich verbergen muss - dann doch wohl vor braunen Schergen.
Aber während im (Schreib-)Versteck der Stift zum Stummel wird und mit der höher stehenden Sonne die Häuser der Dörfer am Fluss aus dem Nebel treten, nimmt auch die Geschichte des Erzählers Kontur an. Er ist nicht nur Arzt, sondern - das legen auch die Rückseiten der Akten nahe, auf die nun hin und wieder ein Blick fällt - hat als Eugeniker an der Leipziger Universitätsklinik geforscht und sich an der Tötung von psychisch und körperlich beeinträchtigten Kindern beteiligt. Die allmähliche Kenntlichwerdung seines Protagonisten setzt Nenik, auch sprachlich, ausgesprochen raffiniert in Szene; in zunächst homöopathischen, dann immer stärkeren Dosen wird die Täter-Rhetorik entfaltet. Der Erzähler bekämpft seine Angst mit Luminal, jenem Barbiturat, das auch bei Epileptikern eingesetzt wurde und das die Nationalsozialisten im Rahmen ihres Kinder-Euthanasieprogramms missbrauchten.
Parallelführungen sind Neniks Stärke: Bei der Flucht aus dem zerstörten Leipzig etwa sitzt die Familie am 5. Dezember im selben Zug wie die nach Grimma verschickten Thomaner, "wie sie herausgeputzt und mit Hakenkreuzbinde am Arm in ihr Ausweichquartier fahren, nur ein paar Stunden nachdem ich mit den Schwestern den Abtransport der Pfleglinge organisiert und sie über dasselbe Gleis in die Außenstelle nach Klinga geschickt habe" - in den sicheren Tod, ahnt der Leser. Im Raum-Zeit-Kontinuum Geschichte, weiß Nenik, gibt es kein Schwarz und Weiß. Also lässt er seinen Protagonisten, während Russen und Amerikaner unaufhaltsam näherrücken, über die Kooperationen deutscher, sowjetischer und amerikanischer Rassehygieniker noch bis in die vierziger Jahre hinein schwadronieren: vom Interesse der Serebrowskis, Bunaks, Filiptschenkos in Moskau bis zur Übernahme einer Erbgesundheits-Ausstellung des Dresdner Hygienemuseums in den Vereinigten Staaten. Wurde nicht der vom NS-Rassenamt gedrehte Film "Erbkrank" in Schulen und Colleges der Neuen Welt gezeigt? "Jeder, der auch nur ein bisschen Bescheid weiß, wird zugeben müssen, dass unser Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Wahrheit ein amerikanisches Gesetz ist. Es trägt . . . die Sonne Kaliforniens im Herzen."
Der Mann, der sich hier um Kopf und Kragen schreibt, ist, wie Robert Merles Auschwitz-Kommandant Höß oder der Akustiker Hermann Karnau in Marcel Beyers Roman "Flughunde", kein Monster. Die pöbelnden Braunhemden, die im März 1930 die Premiere der von ihm besuchten Brecht/Weill-Oper "Mahagony" im Neuen Theater Leipzig sprengten, sind ihm suspekt. Natürlich legte sich der Medizinstudent alle Bände des "Handwörterbuchs der praktischen Medizin" der "beiden Juden" Georg und Felix Klemperer zu, es ist einfach exzellent. Später wird er gegen einen Krieg sein, der nicht die Schwachen frisst, sondern die Jungen und Gesunden: "Wer für die Aufartung seines Volkes eintritt, muss gegen den Krieg sein." Als Werner Catel Anfang 1942, Gadamer und Heisenberg sollen im Publikum gesessen haben, an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften über "Gottes vergessene Kinder" dozierte und Aufnahmen aus der Leipziger Klinik zeigte, durfte der Erzähler den Projektor bedienen. Es war sein "Initiationsritus".
Im Fortgang der Niederschrift nehmen die Aufzeichnungen mehr und mehr den Charakter einer Rechtfertigungsschrift an, zumal der Diarist seine innere Revision mit dem Schicksal eines ihm anvertrauten Kindes verbindet: Das an Epilepsie leidende Mädchen Luise, von seiner Mutter aus dem zum Euthanasieprogramm gehörenden Krankenhaus Großschweidnitz an die Mulde zurückgeholt, wurde ihm Anfang 1945 mit den Worten "Sie sind Arzt" übergeben. Nun fühlte er eine Mission: "Ich habe meine eigenen Vorstellungen, was es heißt, E. zu betreiben . . . Der schöne Tod setzt ein schönes Sterben voraus. Eines, das seinen Grund in der Krankheit findet." Der improvisierte "Untersuchungsraum", in dem das hilflose sterbende Kind malträtiert und bis in den letzten Winkel "durchleuchtet" wurde, befand sich im Andachtsraum der zerstörten Klinik in der Oststraße; Luises Martyrium hatte vierzig Tage gedauert, die biblische "Zahl des Prüfens und Probens". Zur pseudoreligiösen Überhöhung kommt Kunst-Kitsch, wenn der namenlose Mörder in Weiß im Inselversteck die gerettete Röntgenaufnahme von Luises Schädel gegen die Sonne hält und lyrisch empfindet: "Ein Sonnenstrahl fällt auf die Röntgenaufnahme. / Er füllt die Ventrikel mit goldener Luft. / Lumbalpunktion, / der Puls schwindet. / das Herz kommt zur Ruhe. / Das klingt wie ein Gedicht. Mein erstes seit Jahren."
Francis Nenik seziert in seinem kunstvoll verdichteten, stellenweise schwer erträglichen O-Ton-Roman die Denkmuster und Verdrängungsmechanismen eines Täters. Suchen wir, an Arztserien geschult, nach dem Menschen hinter dem gestärkten weißen Kittel, werden wir nicht fündig; die Szenen, in denen sich der Erzähler als liebender Mann und Familienvater imaginiert, bleiben blass und papieren. Um Worte ist er nie verlegen, auch wenn er sie schließlich auf die Rückseite jenes Papierstreifens notieren muss, der Luises letzten Anfall aufgezeichnet hat: "Ich bin ein Messschreiber. Der Kardiograph eines sterbenden Landes. Ich schaue, wie es ein letztes Mal zuckt."
NILS KAHLEFENDT
Francis Nenik: "E. oder Die Insel". Roman.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2021. 288 S., geb.
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