Besprechung vom 16.02.2021
Bekenntnisse eines Ehrgeizigen
Am Ende eines Lebens für die Literatur: Undiplomatische Nachtgedanken des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric
In der Schlaflosigkeit mancher Nächte können die Gedanken eine Klarheit erreichen, von der man sich wünscht, wenigstens etwas in den Tag zu retten. Meistens kann man aber keinen der begonnenen Briefe, keine der begonnenen Reden, keinen der beschlossenen Schlussstriche zurückholen in die Grellheit des Morgens. Und so sind die jetzt erschienenen "Nachtgedanken" des jugoslawischen Nobelpreisträgers Ivo Andric beides: Zeugen der nächtlichen Einbildungskraft und Versuche ihrer Übersetzung in einen Zustand diffuser Helligkeit.
"Wer gut schläft, ist verdächtig", schreibt Andrics Biograph Michael Martens im Nachwort des von ihm übersetzten Buchs. Denn bei Andric sind es die Bösewichte, die über einen gesegneten Schlaf verfügen. Die anderen, die Zweifler und Zauderer, die Ambivalenten, brüten nachts über den eigenen Unzulänglichkeiten. So auch der Autor in seinen nachgelassenen Notizen - Selbstbetrachtungen, Aphorismen, Aperçus und Traumsequenzen -, die Martens unter dem Titel "Insomnia" versammelt hat. Hier zeigt sich der Erzähler bosnischer Epen von einer ungewohnt persönlichen Seite.
Einer der größten Vorwürfe, denen sich Andric immer wieder ausgesetzt sah, war der des Opportunismus. Er konnte als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Berlin die politischen Kreise des nationalsozialistischen Deutschlands frequentieren und später unter Tito den jugoslawischen Vielvölkerstaatskommunismus vertreten. Er pflegte dabei die Diplomatie der kalten Persona, machte sich nie ganz gemein mit einer Sache und lebte seine menschlichen Interessen in seinen Romanen aus. In "Insomnia" bekommt der Leser aber einen Eindruck davon, dass Andric ein Mann großer innerer Spannungen gewesen sein muss.
Wie Martens darlegt, decken sich seine Notizen zur Schlaflosigkeit teilweise bis in den Wortlaut hinein mit Sätzen aus Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" und auch mit Kafkas Gedanken zum schlechten Schläfer. Und so lernen wir einen seelisch verquälten Menschen kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist: "Aber nein. Kein Rummelplatz, keine Kirche, kein Theater ist so lebendig und bevölkert wie diese dunklen Stunden, in denen man schlafen sollte. Unter dem grellen Licht des Gewissens und der Erinnerung wimmelt und kriecht ein ganzes Volk umher. Einige gehen unerbittlich langsam vorbei, und ich erinnere mich, dass ich schon vor langer Zeit bemerkt habe, wie es unglückliche Menschen nie eilig zu haben scheinen. Ohne Fortschritte zu machen, bewegt sich der Zug jener, die ich beleidigt und verachtet, denen ich ohne Recht und Not etwas zuleide getan habe oder denen ich nichts Gutes tat, als ich es gekonnt und gemusst hätte."
Ein großer Teil der kurzen Notizen handelt von solchen Dämonen, die den Schläfer belagern, der "auf dem dünnen Faden" seines Atems den Morgen erwartet wie eine Spinne. "Es ist ein Glück", schreibt Andric als reifer Mann, "dass sich meine Wünsche nicht immer erfüllt haben und dass meine Pläne oft gescheitert sind". Und fügt bedauernd an: "Schade, dass es nicht öfter so war! Denn dieser ganze gesellschaftliche Aufstieg führte immer weiter nach unten, und gerettet hat mich, was mir neben meinen Wünschen, gegen meinen Willen und wider meine Pläne geschah." Bekenntnisse eines Ehrgeizigen!
Ein anderer Teil seiner Notizen handelt von Dingen weit über die vorgetragene Seelenqual unter dem "Leichentuch der Nacht" hinaus. Der gebürtige Bosnier erinnert sich an seine Kindheit im Vielvölkerstaat. Zum Beispiel an den jüdischen Krämer Jankil, der als Einziger im Städtchen "deutsche Bonbons" führte und dessen Mutter im Hinterzimmer des Geschäfts einen "kurzen spröden Armutshusten" pflegte. Jahrzehnte später, beim Besuch einer Ballettaufführung, kommt Andric dieser Husten plötzlich wie eine "vergessene Melodie" in den Kopf, als eine vornehme Jüdin trocken in das Pianissimo der Aufführung hineinhustet. Ein Madeleine-Erlebnis für den Erzähler, das wiederum beim Leser gleich mehrere untergegangene Welten heraufbeschwört.
Andric, der sich als großer Leser und großer Verächter von literarischen Tagebüchern outet, tritt einem in den Notizen als vergleichsweise bescheidener Zeitgenosse entgegen. Der Vanitas-Kult des verquälten Künstlers, der mehr sieht als seine Zeitgenossen, kommt ihm eitel und billig vor. "Warum sollten müde und enttäuschte Schwarzseher recht haben, während Menschen, die das Leben lieben und schätzen und es als lohnend ansehen, für bestimmte Formen dieses Lebens zu kämpfen, unberechenbare Phantasten sind? Und warum sollte ,Leiden' und Reue ein würdigerer Gegenstand hoher Kunst und tiefer Philosophie sein als das Sinnen und Trachten gewöhnlicher Menschen, die atmen, schauen, denken und sich zurechtzufinden suchen und einzuordnen in ein Leben, um das sie nicht gebeten, das sie aber, da sie es nun schon einmal haben, als Verpflichtung und Aufgabe angenommen haben? Warum? Nur der Teufel könnte wissen, warum."
Die meisten der Notizen im Buch tragen kein Datum. Damit sind sie den realen Zeitläufen, in denen Ivo Andric lebte und dachte, wieder etwas entrückt. Es muss in einer sehr späten Lebensphase gewesen sein, als Andric notierte, die Musik spiele jetzt eine immer größere Rolle in seinem Leben. Auf der Rückseite eines Programmhefts von 1963, das ihm in die Hände gefallen war, schrieb er mit großer Anteilnahme über die eben gehörten Orchesterwerke von Mozart, Liszt oder Brahms. Besonders der Letztere lässt ihn nicht mehr los. "Brahms, Konzert für Violine und Orchester in D-Dur. Der vorletzte Satz endet harmonisch, aber in einer tiefen und teuren Harmonie, die erkauft ist durch all das, was ihr vorausging. So sollte auch jedes meiner Werke enden, selbst das kleinste. Und auch mein Leben selbst."
Ivo Andric starb im Alter von dreiundachtzig Jahren in Belgrad. Ob in einer teuer erkauften Harmonie oder infolge einer quälenden Schlaflosigkeit, wissen wir nicht.
KATHARINA TEUTSCH
Ivo Andric: "Insomnia". Nachtgedanken.
Hrsg., aus dem Serbischen und mit einem Nachwort von Michael Martens. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 192 S., geb.
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