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Besprechung vom 01.06.2021
Giftig wuchern die Gefühle
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl schreibt seine Analyse des Finanzmarktkapitalismus fort
Eine "Kurze Theorie der Gegenwart" bietet Joseph Vogls neues Buch ausweislich seines Untertitels. Es erhebt den Anspruch auf theoretische Aufschlüsselung unserer Zeit und tut das wohl im Verbund mit den zwei vorangegangenen Büchern dieses Autors, ",Das Gespenst des Kapitals" (2010) und "Der Souveränitätseffekt" (2015). Im Zentrum dieser, wenn man so sagen darf, Trilogie steht dabei eine Kapitalismusanalyse, und das bedeutet zeitgenössisch: eine Betrachtung des Finanzmarktkapitalismus. Dass er seine Trilogie mit Don Delillos "Cosmopolis", der Schilderung einer Limousinen-Fahrt eines amerikanischen Investmentbankers durch ein zunehmend außer Rand und Band geratendes Manhattan, eröffnet hatte, scheint da völlig schlüssig.
Im neuen Buch schreibt sie Vogl fort zur These der Transformation der Finanzökonomie in eine Informations- und letztlich auch Affekt-Ökonomie. Vogls Kapitalismusanalyse ist mindestens in gleichem Maße an Foucault, Guattari und Kittler geschult wie an Marx, und sie wird von einem Autor vorgeführt, der neben Malebranche, Novalis, Defoe, Balzac oder Melville auch jederzeit noch entlegenere Lesefrüchte aufrufen kann: ein Interview mit Peter Thiel in Wired, einen technischer Beitrag zur Finanzmathematik aus den frühen Siebzigern und so fort. Das ist durchgängig hellsichtig, brillant formuliert, längere Passagen verdichten sich immer wieder zu aufblitzenden Einsichten. Wie etwa die, dass "die Hervorbringung des Sozialen im digitalen Kapitalismus selbst ein kommerziell-unternehmerisches Projekt" geworden ist. Das Buch bestärkt den Eindruck, dass die Analyse einer Wirtschaftsform, die sich immer mehr den Phantasien, Erzählungen, Begierden, Affekten oder der Ignoranz als Bewirtschaftungszonen öffnet und sie sich als Produktivmittel aneignet, bei einem Literaturwissenschaftler vielleicht wirklich am besten aufgehoben ist.
Wer aber heute vom Kapitalismus handelt, kommt um die Demokratie kaum herum. Das kann man, wie hier, ausbuchstabieren als Beitrag der Wirtschaftsform zum Funktionieren (oder zunehmend eher Nicht-Funktionieren) der Herrschaftsform. Aber gerade wer die völlige Synthetisierung von "Kapitalmacht und Machtkapitalien" so stark betont wie Vogl, bis hin zur Behauptung, dass die alte Unterscheidung zwischen Staat und Markt, Politik und Ökonomie, zwischen öffentlich und privat, nur noch als müder ideologischer Trick des Liberalismus zu werten ist, der wird auch etwas über die Mehrheitsfähigkeit einer ökonomischen Ordnung sagen müssen, die hier ausschließlich als Produzent krasser Ungleichheit und giftiger Gefühle angesehen wird. Die Annahme aber, dass am Ende der Kapitalismus aus jeder Art von Krise stabiler, gestärkter und dynamischer hervorgeht, und dass die Politik, deren Mechanismen bei Vogl seltsam unbeleuchtet bleiben, immer nur zur Geburtshelferin einer neuen kapitalistischen Transformation taugt oder zur Herrichtung widerständiger Bevölkerungen - eine solche Annahme enttäuscht berechtigte Erwartungen an das Reflexionsniveau einer "Theorie der Gegenwart".
Dass es ausgerechnet die kapitalistisch verursachten "politischen und sozialen Erosionskräfte" seien sollen, die am Ende zu nichts anderem als einer "Stabilisierung des finanzkapitalistischen Wirtschaftssystems" beitragen, erinnert schon in der Wortwahl an eher hermetische Varianten der Kapitalismusanalyse vergangener Zeiten. Der Verdacht, dass bei Vogl Theorie tendenziell zum Opfer ihrer erzählerischen Struktur wird, nährt sich auch aus der absoluten Vorherrschaft von Passiv-Konstruktionen: Akteure mit Handlungsspielraum, Unsicherheit und widerstreitenden Interessen sucht man in diesem Entwurf vergeblich, echte Geschichte daher auch. Was aufs schönste mit der Dominanz Foucaultscher Begrifflichkeit harmoniert: Die beständige Rede von Gouvernmentalität, Regierungstechnologien und Regulierungspraxen transportiert aber ihre eigenen Funktionalismen. Hier geht - zumindest für den Kapitalismus - immer alles ganz glatt auf, auch wenn das im Endergebnis nur den dystopischen Blick eines fatalistischen Autors auf eine neue Vorkriegszeit freigibt.
Äußerst erhellend ist aber, was Vogl zum Schluss, über die Neusortierung des politischen Kräftefelds, über den strukturellen Populismus der neuen Medien und das durch sie bewerkstelligte "Herauskürzen von Vermittlungsinstanzen" zu sagen hat. Und wie er dort die Reduzierung von Kommunikation auf "erklärungsresistente Substrate" herausstellt, bei der "die Berufung auf Meinungen" und "die Anrufung von Fakten" gleichermaßen an "Begründungsverzicht appellieren". Das ist dann allerdings eine ausgesprochen scharfsichtige Analyse der Gegenwart und geht weit über das hinaus, was man bislang über die gesellschaftspolitischen Wirkungen von Facebook & Co. lesen konnte.
PHILIP MANOW
Joseph Vogl: "Kapital und Ressentiment". Eine kurze Theorie der Gegenwart.
C. H. Beck Verlag,
München 2021. 224 S., geb.
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