Johann Jeremias Glaser (1653 bis 1725) war Scharfrichter von Beruf. Vor allem aber war er ein unvergleichlicher Buchhalter des eigenen Lebens, der der Nachwelt ein einmaliges Zeugnis hinterließ: In einem sogenannten Anschreibebuch hielt er penibel alle Zahlen, Kosten und Fakten seines Erwachsenenlebens fest - ein einzigartiges Ego-Dokument aus der Frühen Neuzeit! Was gab er bei Hochzeiten für Schmuck, Kleidung und Essen aus, was für den Unterhalt seiner Mägde und Knechte? Und was nahm er an Gebühren ein, für das Köpfen und Foltern, aber auch für das Heilen, das Beseitigen von Tierkadavern oder das Ausräumen der Fäkalgruben?
Kai Lehmann webt aus diesen scheinbar dürren Zahlen und Fakten eine faszinierende, spannende Sozial- und Alltagsgeschichte der Zeit um 1700.
Besprechung vom 05.02.2025
Der Henker als Heiler
Kai Lehmann beschreibt das Leben des Meininger Scharfrichters Johann Jeremias Glaser
Am 25. Juli 1680 vollzog Johann Jeremias Glaser seine erste Hinrichtung. Eine Enthauptung auf dem Breuberg bei Meiningen. Er war 27 Jahre alt. Zehn Jahre lang hatte ihn sein Vater auf das Handwerk des Tötens vorbereitet: anfangs mit Kürbissen, später mit starken Rhabarberstängeln. Die Hinrichtung gelang. Glaser konnte den Kopf der Frau, die wegen Hexerei zum Tode verurteilt worden war, mit einem einzigen Hieb des Richtschwerts abschlagen. Die mehr als fünfhundert Menschen, die das Geschehen verfolgt hatten, waren zufrieden - und der junge Henker wurde Scharfrichter des gerade aus Erbteilungen hervorgegangenen Herzogtums Sachsen-Meiningen. Als Glaser 1725 nach 44 Jahren im Amt starb, hatte er 22 Menschen hingerichtet: mit dem Schwert vor allem, aber auch mit dem Strang und auf dem Scheiterhaufen; einmal sogar mit dem Rad, was seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in Deutschland immer seltener vorkam. Sechs weitere Todesurteile hatte er vollstrecken lassen, zwei davon von seinem ältesten Sohn und Nachfolger.
Johann Jeremias Glaser schrieb auf, wann, wen und wie er tötete und was es ihm einbrachte. Als er im August des Jahres 1700 Catharina Burckhardt lebendig verbrannte - die letzte Lebendverbrennung einer als Hexe verurteilten Frau in Mitteldeutschland -, machte er für sich, seine Knechte und Pferde sowie Holz und Stroh 14 Taler geltend, was den Kosten für einen eisernen Ofen entsprach, wie er an anderer Stelle erwähnt. Gleichzeitig hielt Glaser aber auch fest, was er wofür ausgab - und erlaubt uns damit Einblicke in die Ökonomien einer Scharfrichter-"Meisterei", die ihresgleichen suchen. Hinzu kommen Ratschläge und Mahnungen, die in erster Linie seinen Söhnen galten, aber auch die Lebensgeschichten seiner Mutter und seines jüngeren Bruders, der in Gotha Scharfrichter war; topographisch präzise Beschreibungen seiner (diversen) Grundstücke finden sich ebenso wie Inventarlisten, die er bei der Verpachtung von Immobilien anlegte: alles in allem 350 Seiten, die als "Register- oder Aufzeichenbüchlein" im thüringischen Staatsarchiv Meiningen zugänglich sind und die es mit dem hundert Jahre zuvor entstandenen, um ein vieles bekannteren "Berufs"-Tagebuch des Nürnberger Scharfrichters Franz Schmidt mehr als aufnehmen können. Der explizite "Ich"-Bezug der Aufzeichnungen macht sie zu einem Selbstzeugnis par excellence, das der Schmalkaldener Historiker Kai Lehmann für sein Buch umfassend ausgewertet hat. Eine einzigartige Quelle von europäischem Rang, die im Grunde nicht einmal entdeckt werden musste.
Wenn Johann Jeremias Glaser als wohlhabender Mann starb, dann deshalb, weil er nicht nur strafte und folterte, sondern als amtlich bestallter Scharfrichter zugleich auch Abdecker war, der das "gefallene" Vieh verwerten durfte - und vor allem mit dem Verkauf von Häuten erhebliche Gewinne erzielte. Hinzu kam der Vertrieb von Fett, das er zum Teil auch weiterverarbeiten ließ: zu Schuh- und Wagenschmiere, aber auch zu Beleuchtungsmitteln, die zum Beispiel als Talglichter in Kirchen und Schulen Verwendung fanden. Eine weitere Einnahmequelle waren die Hufeisen abgedeckter Pferde, die er an Hufschmiede zum "Recycling" verkaufte - und nicht zuletzt das Reinigen von mehr oder weniger öffentlichen Kloaken im ganzen Fürstentum.
In anderen Worten: Die "Meisterei" des Scharfrichters war ein Wirtschaftshof von regionaler, wenn nicht überregionaler Bedeutung. Nur konsequent war, dass Glaser von Anfang an erheblich in die Modernisierung der einschlägigen Gebäude und deren technische Ausstattung investierte. Ein Jahrzehnt nach seiner Amtseinführung erwarb der umtriebige Geschäftsmann gut zehn Kilometer von seiner ersten "Meisterei" in Dreißigacker bei Meiningen entfernt einen zweiten, deutlich größeren Wirtschaftshof in Wasungen. Auch dieser Hof war mit der dazugehörigen Abdeckerei verbunden. Er kostete die stolze Summe von 1200 Talern.
Obwohl Johann Jeremias Glaser alle Tätigkeiten, die mit der Abdeckerei zu tun hatten, von Knechten verrichten ließ, wusste er doch sehr genau, dass die gesellschaftliche Verachtung, die "Unehrlichkeit" des Scharfrichters, durch die Abdeckerei noch erheblich gesteigert wurde. Gleichzeitig aber wusste Glaser auch, dass er - keine Ausnahme in seinem Metier - ökonomisch, sozial und nicht zuletzt auch juristisch durchaus Spielräume hatte. Gewiss, an eine höhere Schulbildung war für ihn noch nicht zu denken, obwohl er die Grundschule mit ausgezeichneten Leistungen abgeschlossen hatte; ganz zu schweigen von einer Heirat außerhalb unehrlicher Kreise. Gleichzeitig aber war er wohlgelitten, ja es hat sogar den Anschein, dass er einiges Ansehen genoss: nicht nur als Scharfrichter, sondern auch als Heiler.
Wie viele seiner Kollegen konnte Glaser auf ein mehr oder weniger exklusiv erworbenes medizinisch-anatomisches Erfahrungswissen zurückgreifen, das in Scharfrichterfamilien von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Taufpaten seiner neun Kinder waren keineswegs nur "Unehrliche" - und auch die Träger seines Sarges nicht. Wenn er zu Taufen oder Heiraten einlud, kamen die Eingeladenen, ob "ehrlich" oder "unehrlich", und erlebten einen fast demonstrativ großzügigen Gastgeber, der Wert auf gute Kleidung legte. Hinzu kam, dass auf einer "Hofstatt", die er erworben hatte, das Bürgerrecht lag. Ein politisches Amt allerdings hätte er nicht ausüben dürfen.
Als Johann Jeremias Glaser 1725 starb, folgte ihm sein ältester Sohn als Scharfrichter nach, so wie er seinem Vater nachgefolgt war. Sein jüngster Sohn aber tat, was seinem Vater noch verwehrt gewesen war: Johann Friedrich Glaser schloss kurz nach dem Tod des alten Scharfrichters das "Lyzeum illustre" in Ohrdruf ab und begann an der Universität Erfurt Medizin zu studieren. Als er 1758 um die Aufnahme in die Leopoldina bat, ließ er nicht unerwähnt, dass sein Vater Scharfrichter gewesen war, wohl aber, dass er auch als Abdecker gearbeitet hatte. Die Aufnahme des jüngsten Glaser-Sohnes in die Akademie ein Jahr später lässt erkennen, wie weit die Erosion der "Unehrlichkeit" zumindest des Scharfrichters bereits fortgeschritten war. Gleichzeitig darf vermutet werden, dass diese Erosion, die mit einem erheblichen Rückgang öffentlicher physischer Bestrafung einherging, in einem engen Zusammenhang mit dem viel beschworenen Eintritt in das "Zeitalter der Strafnüchternheit" im Sinne Michel Foucaults stand. PETER BURSCHEL
Kai Lehmann: "Der Henker des Herzogs". Ein ganz normales Leben um 1700.
Herder Verlag, Freiburg 2024. 400 S., Abb., geb.
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