Besprechung vom 24.03.2022
Finita la Commedia!
Ljudmila Ulitzkaja schreibt über den Tod - klug, zärtlich sowie mit bestürzender Leichtigkeit und Aktualität
Der Tod, so meinte Ljudmila Ulitzkaja in einem Interview, sei die letzte Prüfung, die jeder Mensch zu bestehen habe. Im Gegensatz dazu wirke das moderne, auf Erfolg getrimmte Dasein wie eine Lüge. Erst der Tod gebe unserer Existenz Bedeutung. Das Leben sei nichts als die Vorbereitung auf dieses Ende. Den Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen, darin erkennt Ulitzkaja eine wichtige Aufgabe der Literatur, ihn zu thematisieren und nicht zu tabuisieren. Die russische Schriftstellerin, während der Evakuierung aus Moskau 1943 in Baschkirien geboren, ist dem Tod nicht selten begegnet, Freunde und Freundinnen, Familienangehörige starben, und vor einigen Jahren musste sie selbst gegen eine schwere Erkrankung ankämpfen.
In dem jetzt erschienenen Sammelband mit Erzählungen dieser wohl bekanntesten zeitgenössischen Autorin Russlands fließen all diese Erfahrungen ein. Der Tod wird darin zur Kraft, die das Leben antreibt. Seine immense Wucht stellt jedes Leben noch einmal auf den Kopf, öffnet Seelen, befriedet oder verändert die Menschen, die Sterbenden und mehr noch jene, die zurückbleiben. Der Tod wird nicht nur zur letzten Prüfung, mal schmerzhafter, mal leichter, er hält auch so manche Überraschungen bereit. Gerecht ist er nicht, ebenso wenig wie das Leben. Von solchen Momenten handeln diese meisterlichen Erzählungen und Miniaturen, ein an Herz, Verstand und Sprache reiches Spätwerk, von Ganna-Maria Braungardt fulminant ins Deutsche gebracht.
Da ist die erfolgreiche Anwältin Sarifa, eine Aserbaidschanerin aus Karabach, die, von der eigenen Familie verflucht, in gleichgeschlechtlicher Ehe mit ihrer armenischen Partnerin lebt und auf dem Totenbett in einem Krankenhaus auf Zypern einer eilig aus Moskau angereisten Freundin die völlig unerwartete Frage stellt, was Intelligenzija eigentlich bedeute. Der alte vom Bruder aus Karabach herbeigeschleppte Teppich des Großvaters über dem Sarg setzt plötzlich Kräfte frei, Bruder und Ehefrau der Verstorbenen liegen sich weinend in den Armen.
In der Titelerzählung möchte die alleinstehende couragierte Alissa mit ihren vierundsechzig Jahren für das Ende vorsorgen. Als ihr Leben endlich vollkommen perfekt eingerichtet war, kam das Alter. Angehörige, die sie pflegen könnten, gibt es nicht, also wendet sie sich an einen Arzt des Vertrauens, um im Fall der Fälle selbstbestimmt entscheiden zu können, wann und wie sie aus dem Leben scheiden möchte. Das Ganze nimmt eine unverhoffte Wendung, die beiden eine späte Liebe beschert, bis ein tragischer Vorfall und ein neues Leben Alissas Selbstmordgedanken endgültig vertreiben. Fast alle Erzählungen haben eine Widmung, es sind Hommagen an Freundinnen, an "diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten"!
In der russischen Literatur ist das menschliche Sterben ein zentrales, nicht selten religiös untermauertes Thema. Tolstois Klassiker über den Tod des Iwan Iljitsch gilt dazu als Meisterwerk. Erzählt wird darin aus der Sicht des Sterbenden, der nach Hoffnung auf Genesung, körperlichen Qualen, nach Hadern und Selbstmitleid, nach Wut auf die Angehörigen und Verzweiflung den Tod in einem aufkommenden Licht annimmt und überwindet. Ljudmila Ulitzkaja greift mit ihren Geschichten im Zyklus "Vom Körper der Seele" aus einer hypermodernen Welt auf diese theologische Spiritualität zurück. Als vor dem Pathologen Kogan ein junger Mann mit zwei ihm unerklärlichen Verletzungen auf dem Seziertisch liegt, beschließt er, dass dies seine letzte Autopsie werden soll. Kogan, der bald darauf stirbt, ahnt nicht, wer dieser Junge war, und auch der junge Mann selbst, ein begabter Musiker aus armen Verhältnissen, weiß bis in die Todesstunde nichts über seine Bestimmung, die er, wie so viele vor ihm, nicht erfüllen konnte. Das Leben einer ebenso klugen wie pflichtbesessenen Bibliothekarin, die auch im hohen Alter der neuen Computerweisheit gegenüber aufgeschlossen war, bekommt einen Riss, als ihr das Wort "Serpentinen" nicht mehr einfällt, und Sascha, eine Ingenieurin, will nach der Lektüre der "Weltrose" des russischen Visionärs Daniil Andrejew in den zwei unterschiedlichen Augen ihres Sohnes plötzlich jene Knopfaugen eines Plüschhundes wiederentdecken, den ihre Mutter 1944 aus einem amerikanischen Hilfspaket bekommen hatte. Über drei Generationen hatte das Spielzeug die Kinder der Familie begleitet.
In den drei im Band versammelten Zyklen, "Freundinnen", "Vom Körper der Seele" und "Sechs mal sieben Miniaturen", umkreist die Autorin in unterschiedlichen Formaten, in Prosa und Poesie und aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema Sterben, das nichts anderes als das des Lebens ist. Ihre Miniaturen sind Variationen zu den Risiken und Freuden des Lebens, zu unauflösbaren Lebensgemeinschaften, zu Ängsten, wie alle sie kennen: Geburt, Geschwister, Ehe, Tod, Krankheit und, ja auch, die Angst vor einem Weltuntergang.
In diesen für so viele beängstigenden Tagen und Wochen bekommt die Lektüre des Bandes noch eine andere Dimension. In der Moskauer Onlinezeitung "Nowaja Gaseta" hatte Ljudmila Ulitzkaja am 25. Februar angesichts des Krieges in der Ukraine von "Schmerz, Angst und Scham" gesprochen. Inzwischen ist dieser Beitrag nicht mehr verfügbar. Die von dem Friedensnobelpreisträger Muratow geleitete Zeitung geriet wie die gesamte Zivilgesellschaft unter enormen Druck seitens der russischen Regierung. Krieg darf in Medien und Öffentlichkeit nicht Krieg genannt werden, Journalisten, Autoren, Menschenrechtler, die dieses Wort benutzen, können verurteilt und bis zu fünfzehn Jahre inhaftiert werden. Ljudmila Ulitzkaja schrieb, sie habe keine Angst. Wird der Tod, den dieser Krieg bringt, auch nicht mehr Tod genannt werden dürfen? SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja:
"Alissa kauft ihren Tod". Erzählungen.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2022. 300 S., geb.
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