Im Zeitgeist herrscht eine Verwirrung ontologischen Ausmaßes: Wirklichkeit und Fiktion scheinen heute ununterscheidbar. Davon ist nicht nur die mediale Öffentlichkeit, sondern auch das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften betroffen. Um dieser Sackgasse zu entrinnen, entwickelt Markus Gabriel in seinem neuen Buch eine realistische Philosophie der Fiktionalität, die zugleich die Fundamente einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften legt. Ein philosophisches Grundlagenwerk.
In seinem Zentrum steht die »Selbstbildfähigkeit« des Menschen, die fundamental sozial reproduziert wird, ohne deswegen sozial konstruiert zu sein. Fiktionen - paradigmatisch dramatis personae unserer ästhetischen Vorstellungswelten wie Anna Karenina, Macbeth, Mephistopheles oder Jed Martin, der Protagonist von Michel Houellebecqs Karte und Gebiet - sind wirksame Prozesse der Selbstdarstellung der geistigen Lebensform des Menschen. Um dies anzuerkennen, muss der anthropologischen Zentralstellung der Einbildungskraft zu ihrem Recht verholfen werden. Auf diese Weise überwindet der Neue Realismus Gabriels den falschen Gegensatz von Sein und Schein, um unseren bedrohten Sinn für das Wirkliche zu rekalibrieren.
Besprechung vom 07.06.2020
Der Freideuter
Der Philosoph Markus Gabriel hat ein neues Buch veröffentlicht und ist ein gefragter Interviewpartner in der Corona-Krise. Aber sagt er, was er schreibt? Oder widerspricht der öffentliche Intellektuelle dem Theoretiker? Ein paar Stichproben
Was in der Marktwirtschaft als Naturgesetz erscheint, das gilt in der Produktion von Sinn nur bedingt. Wenn Sinn zur knappen Ressource wird, bleibt das Angebot nur selten hinter der Nachfrage zurück. Stattdessen kommt es immer wieder zu Deutungsüberschüssen. In unruhigen Zeiten könnte man fast von einer Überproduktionskrise sprechen. Markus Gabriel, der führende Philosoph seiner Generation, er ist 1980 geboren, versteht eine Menge von dieser speziellen Ökonomie. Mitte Mai ist sein neues Buch erschienen, das einfach nur "Fiktionen" heißt. Es hat mehr als sechshundert Seiten und ist nicht gerade, was man als eingängig oder populär bezeichnen würde. Eher ein Fall für Experten und Nerds mit Schwächen für Erkenntnistheorie und Ontologie.
Seit März, könnte man sagen, bewirbt der Bonner Lehrstuhlinhaber, der auch schon in Paris und New York gelehrt hat, indirekt auch sein Buch, indem er vornehmlich in Interviews die Corona-Krise deutet. Als medien- und reichweitenbewusster Denker weiß er, was erwartet wird: nicht Einverständnis, sondern Widerspruch, und je steiler die These, desto größer der Distinktionsgewinn für den Befragten und die Fragesteller.
Vom "virologischen Imperativ" sprach Gabriel am 26. März in einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung". Dieser "fordert alle dazu auf, sich so zu verhalten, als ob die menschliche Gemeinschaft eine Infektionskette wäre. Individuen werden nicht als moralische Akteure, mithin als Träger von Menschenwürde, sondern primär als Virenträger angesehen."
In einem Interview vom 28. April gab er sich dann launig, fast aufgekratzt, was auch an den suggestiven Fragen der "NZZ" lag, die Gabriel willig bediente: "Die Expertokratie hat nach dem Lockdown zu einer Dynamik des Ausnahmezustands geführt, die ihrerseits in eine Welt reiner epidemiologischer Computersimulation gemündet ist", sagte er da, als ginge es um Einsätze an der "semantischen Bürgerkriegsfront" (Habermas). "Mit dem realen Virus ist die Virtualität mehrfach zurückgekehrt, nur anders: Die Politik orientiert sich an Computersimulationen, während wir alle uns im virtuellen Raum von Zoom und Skype treffen."
Das klingt schon sehr stark, ist aber leicht noch zu überbieten: "Unser Zusammenleben in Deutschland wird mittlerweile vom Team des Virologen Christian Drosten und vom Robert-Koch-Institut gestaltet. Keiner unserer Politiker kommt derzeit um diese Expertise herum. So paradox es klingen mag: Der postmoderne Reflex ist nun in dieser Stunde, in der alle die Objektivität der Wissenschaft beschwören, tatsächlich zur Wirklichkeit geworden. Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen, der vielgeschmähte französische Soziologe Jean Baudrillard hat dieses Phänomen in den 1990er Jahren wunderbar beschrieben."
Vielleicht war das ein bisschen zu viel Geschichtsphilosophie, so dass Gabriel nüchterner nachschob: "Was die Epidemiologen mit bestem Wissen und Gewissen veranstalten, ist Fiktion, also: Modellrechnung. Es gibt das Virus wirklich, es ist gefährlich. Seine künftige Ausbreitung wird aber von Modellen berechnet, die ja keine Teleskope für den Blick in die Zukunft, sondern als Modelle eine Art von Fiktionen sind."
Weil das Interview nicht unbemerkt blieb, fragten andere auch. Und Gabriel tat, was man auf Neudeutsch "liefern" nennt. Im ARD-Magazin "Titel Thesen Temperamente" verkündete er Ende April: "Das ist eine Revolution, die wir gerade erleben." Im Deutschlandfunk Kultur sprach er am 18. Mai von einer "massiven Schieflage" in unserem Weltbild, "weil Naturwissenschaft und Technik - in diesen Tagen repräsentiert durch die Virologie und Computersimulationen - an die vormalige Stelle der Religion getreten sind". Und wiederholte die These, naturwissenschaftliche Modelle funktionierten "so ähnlich wie Fiktionen". Zur Tracing-App hatte der Sender ihn schon am 9. Mai befragt: "die Maßnahme einer soften Cyberdiktatur". Auch für den NDR blieb am 20. Mai noch etwas übrig: "Ich beobachte im Moment ein Syndrom, das ich als Hygienismus bezeichne, das muss man so hören wie Rassismus ... Das Robert Koch-Institut ist die fundamentale Selbstbeobachtungsinstanz der Gesellschaft geworden. Und dies ist eine neue, gefährliche Form der Entfremdung."
Das überraschte, weil Entfremdung als Kategorie eigentlich schon seit dem jungen Marx etwas aus der Mode gekommen ist und bei Gabriel sonst keine Rolle spielt. Aber gut. Es geht ja auch um die Zukunft der Menschheit: "Denn die Normalität, die jetzt endgültig zerstört ist, war in einem bestimmten Sinne nicht normal, sondern letal. Wir haben ja systematisch an der Selbstausrottung der Menschheit gearbeitet. Die Ordnung vor Corona war eben überhaupt nichts, nach dem wir uns zurücksehnen sollten, sondern wir müssen nach vorne denken. Wir leben längst in einer ganz neuen Phase der Menschheit."
Das alles klingt nun so markig und frei von Deutungshemmungen, dass man sich vom neuen Buch noch mehr erhofft, was dem diffusen Unbehagen in der Corona-Zivilisation zu kultivierten Begriffen verhilft. Man könnte allerdings auch fragen, ob Gabriel, der sich kämpferisch und unbequem gibt, wie man das vom Philosophen erwartet, noch auf dem Terrain der eigenen Theorie operiert. Das lässt sich stichprobenartig überprüfen, das Buch ist ja da.
Die Frontstellung der "Fiktionen" ist klar: Gegen Konstruktivismus und Naturalismus, gegen die Verwechslung von Wirklichkeit und Fiktion setzt Gabriel seine pluralistische Ontologie mit großer Perspektive: "Zweck dieses Unternehmens ist eine Neujustierung des Sinns des Lebens." Gabriels Schlüsselbegriff irritiert etwas: "SFO" ist nicht das Kürzel für San Francisco International Airport, sondern steht für "Sinnfeldontologie". Aber okay, wir sagen ja auch seit drei Monaten RKI, wenn wir das Robert-Koch-Institut meinen. Die SFO besagt, dass alles nur in einem Sinnfeld existiert. Ein Sinnfeld ist eine "Anordnung von Gegenständen (...), die einem Regelsystem untersteht". Es gibt unendlich viele Sinnfelder.
Womit man schon bei der These vom Menschen als "Virenträger" ist. Ihn als solchen zu betrachten heißt nicht, dass er in anderen Sinnfeldern nicht als moralisches Wesen, Politiker oder Restaurantbesucher existiert. "Was nicht existiert, existiert an anderer Stelle, indem es aus einem Sinnfeld ausgeschlossen und einem anderen zugewiesen wird", schreibt Gabriel. Die Frage ist bloß, in welchem. Wenn Wissenschaft und Gesundheitssystem den Menschen so sehen, sehen ihn Politik oder Kultur oder Moral gerade zurzeit nicht so, weshalb Politiker streiten, Künstler publizieren und wieder andere protestieren.
Ganz abgesehen davon, dass das Sinnfeld Wissenschaft weder in sich so homogen noch in seinem Geltungssanspruch so unbestritten ist, wie Gabriels Begriff "Imperativ" insinuiert, kann man die Vorgänge auch deutlich klarer fassen. Der Systemtheoretiker Rudolf Stichweh zum Beispiel schreibt (F.A.Z. vom 7. April), die Dominanz des Gesundheitssystems stelle "eine eigentümliche Ordnung der Funktionssysteme" her, wo sonst "Gleichbedeutsamkeit" herrsche; zugleich weist er dem politischen und dem Wissenschaftssystem "weitere Hauptrollen" zu. In Gabriels pluralistischer Ontologie findet man dagegen kaum etwas darüber, wie das Verhältnis der vielen Sinnfelder zueinander beschaffen ist.
Mit der Aussage "Modelle funktionieren so ähnlich wie Fiktionen" agiert der Philosoph dann fast wie ein Hütchenspieler, der auf die Trägheit der Wahrnehmung baut. Er nutzt den Umstand, dass sich im Alltagsgebrauch beim Begriff "Fiktionen" Assoziationen wie Nichtexistenz oder bloße Erfindung einstellen. Durch das Adjektiv "ähnlich" überträgt sich diese Bedeutung dann ganz von selbst auf die Modelle der Naturwissenschaft. Gabriels ganzes Buch ist nun aber genau gegen ein solches Alltagsverständnis von Fiktionen gerichtet. Und zwar vom allerersten Satz an: "Der Schein ist Sein." Fiktionen existieren also. Sie sind, laut Gabriel, "mentale Ereignisse", sie dienen unser Selbstobjektivierung, sie sind allgegenwärtig als "die Darstellung eines Sachverhalts, die den Rahmen desjenigen überschreitet, was uns unmittelbar in sensorischer Anschauung als Szene unseres Lebens erscheint".
Der Begriff "Modell" ist nicht annähernd so scharf konturiert. "In Modellen ordnen wir theoretischen Termini Gegenstände zu, die teils prätheoretisch existieren sollen", heißt es da etwas lustlos. Die Verwendung des Begriffs schwankt ansonsten zwischen Alltagssprache und leichter Distanzierung, wenn es um Modelle in Natur- oder Wirtschaftswissenschaften geht. Weshalb auch die "Ähnlichkeit" von Fiktionen und Modellen nur eine Behauptung bleibt, hinreichend unscharf, um Modelle, die aus Experimenten oder statistischen Berechnungen gewonnen werden, in die Nähe des alltäglichen Verständnisses bloßer "Fiktionen" zu rücken. "Fiktion, also Modellrechnung" ist im Kontext der Epidemiologie eine gefährlich unterkomplexe Floskel. Sie stellt allein das Gemeinsame, den "fiktionalen Anteil", heraus - und die wissenschaftlich diskutierten und validierten Ergebnisse einer Forschergemeinde ins Abseits.
Ähnlich irrlichternd erscheint die Behauptung, Naturwissenschaft und Technik, "in diesen Tagen repräsentiert durch die Virologie und Computersimulationen", seien "an die vormalige Stelle der Religion getreten". Was genau besagt das? Dass es in verschiedenen Epochen ("in diesen Tagen" - "vormalige") Welterklärungsbedarf gibt. Trivial, aber wahr - wäre da nicht das kleine Problem, dass die Religion als Sinnfeld immer noch existiert, sie aber zum anderen selbst in ihren Glanzzeiten nicht in der Lage war, auf der Basis ihrer Modelle und Fiktionen Dampfmaschinen, Toaster oder Smartphones herzustellen. Da kann was nicht stimmen mit der Funktionsübernahme.
Man kann Gabriel jetzt nicht vorwerfen, dass er seine Hörer verschont mit dem begrifflichen Feintuning seines Buches und ein paar Abkürzungen nimmt. Aber man kann sich schon fragen, warum er im Buch Baudrillard vorhält, der "Ideologie des postfaktischen Zeitalters" aufgesessen zu sein, um im Radio zu verkünden: "Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen." Die Pointe opfert die Logik: Wäre die Wirklichkeit heute zu ihrer eigenen Ideologie geworden, also beide voneinander ununterscheidbar, ließe sich das von Gabriels Position aus gar nicht mehr erkennen, weil es kein Außen gäbe.
Und dass Politiker auf den Rat der Virologen angewiesen sind, heißt ja nicht, dass nun die Virologen "gestalten". Laut SFO müsste das zu ontologischen Fehlzündungen führen, weil die Fiktionen der Epidemiologen nach wie vor im "Regelsystem" des politischen Sinnfelds interpretiert werden müssen und gar nicht 1:1 umgesetzt werden können. Und was das RKI als "fundamentale Selbstbeobachtungsinstanz" betrifft, klingt das dramatischer, als es tatsächlich ist. Bescheidener würde man von einem "Framing" sprechen, das zu benennen zugleich heißt, dass einem die Rahmung als Rahmung bewusst ist. Den akustischen Gleichklang von "Hygienismus" und "Rassismus" überlassen wir sich selbst. Und dass wir "längst in einer ganz neuen Phase der Menschheit leben", ist auch weniger Diagnose als eine Prognose, die ihren Inhalt nicht ins Futur, sondern ins Präsens setzt.
Insofern lässt sich sagen, dass Markus Gabriels öffentliche Corona-Deutungen zum Teil zu den Fiktionen gehören, von denen "Fiktionen" nun gerade die Wirklichkeit abheben will in einer "Destruktion des Scheins". Am Ende dieser Stichproben, die man nicht verwechseln sollte mit einer Rezension des neuen Buches, kommt es einem so vor, als verstünde man Gabriels forsche mediale Positionierungen der letzten Wochen lieber nicht als Ableitungen aus seiner Ontologie. Sollten sie als solche gemeint sein, wäre das, frei nach Aristoteles, eine "metabasis eis allo genos": die heimliche Verschiebung der Bedeutung eines Begriffes durch Änderung des Kontextes. Ein philosophischer Taschenspielertrick.
PETER KÖRTE
Markus Gabriel: "Fiktionen". Suhrkamp Verlag, 636 Seiten
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