Besprechung vom 01.03.2025
Schwarze Seele
Ein Schlüsselroman? Mary Shelleys "Mathilda"
Eine junge Frau liegt im Sterben. Sie schreibt einen Brief an einen etwas älteren Dichter, mit dem sie in den Monaten zuvor viel Zeit verbracht hatte und dem sie erklären möchte, wie es so weit mit ihr gekommen ist.
Also bringt sie eine wüste Geschichte aufs Papier: Ihr Vater, dem als jungem Mann die Herzen zuflogen, verliebt sich in die Tochter des Nachbarn und heiratet sie schließlich. Seine Frau bringt eine Tochter zur Welt, die Briefschreiberin Mathilda, und stirbt kurz darauf. In seiner Verzweiflung bittet ihr Vater seine Schwester, auf Mathilda achtzugeben, und geht von England hinaus in die Welt, ohne sich in den kommenden sechzehn Jahren bei den Verwandten zu melden. Er kommt zurück, seine junge Tochter himmelt ihn an, nach dem baldigen Tod der Tante leben Mathilda und ihr Vater miteinander in London und in ländlicher Abgeschiedenheit, während der zuvor so fröhliche Vater der Tochter plötzlich schroff und abweisend gegenübersteht. Sie dringt in ihn, und schließlich eröffnet er ihr, dass seine Liebe zu ihr inzestuöse Züge angenommen hat. Nach dieser Eröffnung bringt er sich um. Mathilda aber erholt sich von diesem Bekenntnis nicht mehr.
Der Brief bildet den Text von Mary Shelleys Roman "Mathilda", den die Autorin 1819 in Italien schrieb. Sie war 22 Jahre alt und hatte eine bewegte Zeit hinter sich: Als Sechzehnjährige war sie dem verheirateten Dichter Percy Shelley begegnet und mit ihm auf den Kontinent geflohen. Eine gemeinsame Tochter starb, ebenso zwei weitere Kinder; einzig der drei Tage nach Vollendung des "Mathilda"-Manuskripts geborene Percy Florence Shelley sollte seine Eltern überleben.
Das Interesse an Leben und Werk der 1851 gestorbenen Mary Shelley knüpfte sich lange vor allem an ihren ungeheuerlichen Roman "Frankenstein", den sie als Zwanzigjährige zunächst anonym veröffentlicht hatte. Erst in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts weitete sich der Blick. Mehrere große Biographien, allen voran die Arbeit von Miranda Seymour, stellten Shelleys wachsende Einsamkeit heraus, die zahlreichen Schicksalsschlägen geschuldet ist: Ihre Mutter starb elf Tage nach Marys Geburt, eine Halbschwester nahm sich in jungen Jahren das Leben, auf den Tod der drei Kinder folgte 1822 das Schiffsunglück, bei dem Percy Shelley ertrank.
Einsamkeit und Verlust sind auch die zentralen Themen in Shelleys Werk - schon "Frankenstein" zeigt ja ein Wesen in größtmöglicher Isolation. Der Nachfolgeroman "Mathilda", der jetzt in Stefan Weidles deutscher Übersetzung erscheint, handelt im Grund von nichts anderem, auch wenn er in späterer Zeit - gedruckt wurde der Text erst 1959 aus dem Nachlass - als Schlüsselroman gelesen wurde, in dem Mathilda Mary Shelley, Mathildas Vater Marys Vater William Godwin und der reizende Nachbar Woodville Percy Shelley repräsentiert. Daran mag etwas sein; man möchte aber doch dem Übersetzer folgen, der in seinem Nachwort darauf hinweist, dass Godwin, dem seine Tochter das Manuskript zur Lektüre gab, den Text womöglich weniger um des damals klischeehaft häufig verwendeten Inzestmotives willen ablehnte, sondern wegen der Schilderung einer jungen Frau am Rande des Selbstmordes.
Denn das sind die Passagen, die den Roman bis heute unbedingt lesenswert machen. Die junge Protagonistin, die etwa im Alter ihrer Autorin ist, schildert das Erleben tiefer Verzweiflung nachvollziehbar und kunstvoll zugleich, der Blick geht ins Innere der Figur und zugleich auf ihre Manöver, sich der Welt gegenüber nicht zu offenbaren - sie schreibt sich selbst ein "taubenhaftes Äußeres und das Herz einer Füchsin" zu, spricht davon, wie unmöglich es sei, der Umgebung eine auch nur vage Vorstellung von der umfassenden Schwärze, der vollständigen inneren Leere zu vermitteln, und von der verlockenden Vision, in einem anderen einen Begleiter für den Selbstmord zu finden.
Woodville, der Begleiter ihrer letzten Monate, verweigert sich diesem Wunsch Mathildas mit exzellenten Gründen. Und die Beredsamkeit, die Shelley ihm für diese Weigerung verleiht, lässt hoffen, dass auch die Autorin diese Gründe zu teilen vermochte. TILMAN SPRECKELSEN
Mary Shelley: "Mathilda". Roman.
Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Pendragon Verlag, Bielefeld 2025. 156 S., geb.
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