Warum ist unser Körper politisch?! Dieser Frage geht Olivia Laing in ihrem Buch Everybody nach. Sie führt dabei eine tiefgreifende Analyse der politischen (und sozialen) Dimension unserer Körper durch.
Sie zeigt uns die Ambivalenzen in allen ihren Nuancen, die zwischen Unterdrückung und Freiheit stecken und ordnet sie in historische Zusammenhänge, nimmt Bezug auf die Relevanz von Identität und erläutert die Rolle, die Aktivismus dabei spielt.
Besonders die Auswahl der Persönlichkeiten, über die Olivia Laing spricht, hat mich fasziniert.
So erfahren wir beispielsweise, dass die Essayistin Susan Sontag, die vornehmlich als Intellektuelle wahrgenommen wurde, auch sehr unter ihrer Krebserkrankung und den damit verbundenen Folgen für ihren Körper, litt. Oft nehmen wir Werke von Autor*innen mehr auf einer körperlosen Ebene wahr - aber die Gedanken über ein Werk wandeln sich enorm, wenn man den Körper als Aspekt hinzuzieht, es gibt ihm mehr Tiefe. Mein wichtigstes Learning aus Everybody: Die Berücksichtigung, aus welchem Körper ein Mensch spricht und schreibt, ist enorm wichtig! Düstere, schmerzvolle Bücher sieht man in einem anderen Licht, wenn man weiß, dass der/die Schreibende in einem Körper lebt, der dem Tod gegenübersteht.
Laing denkt auch - ausgehend von Wilhelm Reich - darüber nach, wie der politische Aktivist Malcolm X zu seinem Körper stand, über Nina Simone oder den Psychiater Sigmund Freud. Sie verwebt dabei eigene Protesterfahrungen mit diesen inspirierenden historischen Persönlichkeiten und zeigt uns deren Einflüsse auf die Gesellschaft auf. Jede einzelne dieser Figuren hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Dimension unserer Körper beigetragen. So war Malcolm X in doppeltem Sinne eingesperrt, im Gefängnis und in seinem Körper. Laing macht das Gefängnis in ihrem Buch zu einer Metapher - wir können unseren Körper nur durch das Sterben und den Tod verlassen. Im eigenen Körper zu leben, fühlt sich für viele Menschen an, wie eingesperrt sein, was muss das nur für eine unerträgliche Erfahrung sein?! Warum also kollidieren gesellschaftliche Normen und individuelle Freiheit immer wieder miteinander?! Laing hat
Antworten!
Bezüglich der Identitätspolitik plädiert Laing auf Solidarität und Kommunikation, es sei wichtig über Unterschiede miteinander sprechen zu können. Sie denkt über Gemeinschaftlichkeit mit Fremden nach, sieht alles im Wandel und spricht sich gegen Stammeszugehörigkeiten aus.
Die sozialen Medien sieht sie kritisch, da Menschen dort präsent sind, aber doch verborgen bleiben.
Meine Gefühle den sozialen Medien gegenüber haben sich sehr verändert in den vergangenen zehn Jahren. Als ich The Lonely City geschrieben habe, dachte ich noch, das seien positive Orte, in denen man in Kontakt treten kann. Jetzt denke ich, ein Grund, warum sie so gefährlich sind, ist, dass sie körperlos sind, dass sie keine Körper einbeziehen. Wie Sie sagen, präsentieren sie perfekte Versionen von Körpern. Und Menschen sprechen dort miteinander, wie sie es nie täten, wenn sie zwei Körper in einem Raum wären wegen des sozialen Umfelds und der Vorsicht, die herrscht, wenn wir mit einem anderen Menschen zusammen sind. Wir sehen ein Gesicht und wir sehen, welche Wirkung unsere Worte auf dieses Gesicht haben. Ich bin also skeptischer, als ich es war, was die sozialen Medien betrifft. Sie fördern das Verlangen nach diesen unerreichbaren Körpern, besonders bei jungen Leuten seit der Pandemie, als sie so viel Zeit vor dem Computer verbracht haben. Sie wollen eine unangreifbare, perfekte Hülle. Gleichzeitig sind diese jungen Leute voller Zorn, Angst und Verzweiflung. Das wollen sie nicht zeigen, so ziehen sie Masken an, um ihre Gefühle verbergen zu können.
Für wen ist Everbody von Olivia Laing die passende Lektüre?!
Ich würde sagen, für alle Leser*innen, die sich für die Zusammenhänge von Gesellschaft, Körperpolitik und Geschichte interessieren. Schonungslos ehrlich animiert sie dabei, über unsere eigene Lebensrealität nachzudenken und diese zu hinterfragen. Sie berichtet vom langen Kampf um körperliche Freiheit und dessen Meilensteine, wie sexuelle Befreiung, dem Foranschreiten des Feminismus, LGBTQ-Bewegungen, dem Civil Rights Movement und so vielem mehr.
Mir hat Everybody - warum unser Körper politisch ist in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet und ich könnte nicht dankbarer sein für die Lektüre. Absolute Leseempfehlung!