Besprechung vom 12.02.2021
Auf Flügeln seufzenden Gesanges
Sophy Roberts sucht "Sibiriens vergessene Klaviere" und findet imponierende Menschen in einem versehrten Land
Sibirien macht zwar den flächenmäßig größten Teil von Russland aus, dennoch ist es ein Land im Land, das vom europäischen Teil einerseits ausgebeutet und als "Gefängnis ohne Dach" genutzt wird, zugleich aber auch für Russlands historische Mission steht, die europäische Kultur bis zum Pazifik zu verbreiten. Mit den Siedlern und auch mit den Sträflingen kamen Bücher, Ideen sowie Musikinstrumente von diesseits des Urals ins nördliche Asien, wo das bloße Leben eine Herausforderung darstellt. Wenn die britische Reisejournalistin Sophy Roberts über Jahre durch Sibirien gefahren ist, um alte Klaviere zu finden, so betrieb sie damit eine Zivilisationsarchäologie eigener Art. Ihr Buch verwebt historische Exkurse mit Begehungen gottvergessener Orte und Figurenporträts von eindrucksvoller Kraft.
Geschichte und Gegenwart mit dichten Fäden verwebend, zeichnet die Autorin ein Bild von Russlands Klavierkultur. Nachdem europäische Klaviermusik am russischen Hof en vogue wurde, ließ die deutschstämmige Kaiserin Katharina die Große sich 1774 ein Zumpe-Tafelklavier aus England liefern - das moderne Instrument der Stunde, das dann während des Zweiten Weltkriegs einige Jahre evakuiert in Sibirien verbrachte. Der Sohn von Katharinas Gouverneur im sibirischen Tobolsk, Alexander Aljabjew, wurde Pianist und Komponist und schrieb seine berühmtesten Lieder in sibirischer Verbannung. Eine echte Pianomanie lösten später die Auftritte von Franz Liszt in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts aus, als auch Clara Schumann in Petersburg spielte und der schulbildende deutsche Pianist Adolf Henselt nach Russland übergesiedelt war.
Die bekannteste Klavierpionierin in Sibirien war die Fürstin Maria Wolkonskaja, die ihrem Mann, der an der Dekabristen-Verschwörung 1825 teilgenommen hatte, in die Verbannung folgte, wobei sie ihr Clavichord auf dem Schlitten mit sich führte. Im Irkutsker Wohnhaus der Wolkonskis, heute ein Museum, künden noch zwei altersschwache Klaviere von der heroischen Bildungsarbeit der Exilanten, die hier einst den ersten Konzertsaal errichteten.
Klaviere waren freilich extrem hinfällig, zumal im wilden Osten mit seinen Temperaturstürzen und der Lufttrockenheit im Winter. Immer wieder trifft die Autorin auf arg mitgenommene Instrumente, wie jenen in alle Einzelteile zerlegten Bechstein-Flügel in einer Werkstatt, den sie mit einem dem Tode nahen alten Trinker vergleicht, obwohl der Restaurator versichert, er werde ihn instand setzen. Das Los der Klaviere erinnert an das Leid und die Widerstandskraft von Menschen, speziell von Musikern im sibirischen GULag, wie der Pianistin Véronique Lautard-Schewtschenka (1899 bis 1982), die in der Haft auf einer geschnitzten Holztastatur "geübt" haben soll, oder des Komponisten Wsewolod Saderatzki (1891 bis 1953), der im fernöstlichen Magadan ohne Instrument einen Zyklus von vierundzwanzig Präludien und Fugen schuf.
Tatsächlich betrachtet Sophy Roberts Klaviere auch als lebendige Kulturträger, deren historisches Gepäck ihrer Stimme die individuelle Klangfarbe gibt. Die alten Instrumente erzählten von der Kolonisierung des Kontinents durch Russland, aber auch vom menschlichen Durchhaltevermögen, und der Glaube an den Trost durch Musik lebe auch in dumpfen Tönen zerbrochener Hämmer, schreibt sie. Darin bestärken sie sibirische Musiker. Wie der Klavierstimmer in Nowosibirsk, der seinem in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebauten Grotrian-Steinweg-Klavier anhören will, wie viel es miterlebt habe. Oder die Tomsker Klavierlehrerin Olga Leonidowna, in deren Holzhaus ein Bechstein-Stutzflügel von 1896 steht, den im Zweiten Weltkrieg Evakuierte aus Leningrad mitgebracht hatten. Jeden Morgen küsst Olga das Instrument, dessen Klang Roberts an seufzenden Gesang erinnert.
Die Autorin verfolgte auch ein praktisches Ziel während ihrer Recherchen: Sie wollte für die mongolische Pianistin Odgerel Sampilnorov, deren burjatische Vorfahren während der dreißiger Jahre aus der Gegend um den Baikalsee fliehen mussten, ein passendes Instrument mit sibirischem Charakter finden. Sampilnorov, die Roberts bekennt, Johann Sebastian Bachs Musik mache das Drama von Tod und Auferstehung für sie lebendig, hatte schon in frühester Jugend ein immenses Gespür für Bach, weiß ihr Mentor, der deutsche Dokumentarfilmer Franz-Christoph Giercke, den der Klang ihres modernen Yamaha-Stutzflügels frustrierte. Also fahndet Roberts nach einem Klavier, dessen Stimme das intuitive Wissen dieser Künstlerin transportieren würde.
Ihr Buch skizziert einerseits die Geschichte von Russland als Musiknation, die indigene Kulturen verdrängte, überragende Komponisten hervorbrachte und durch vor allem aus Deutschland eingewanderte Klavierbauer wie Becker, Schröder, Diederichs im neunzehnten Jahrhundert eine hochwertige Instrumentenproduktion im eigenen Land aufbaute. Der Oktoberumsturz 1917 trieb Künstler wie Klavierbauer in die Emigration, führte aber auch dazu, dass im ganzen Land staatliche Musikschulen entstanden, die Talente für die Konservatorien heranzogen, und dass selbst in Sibirien Klaviere gebaut wurden. Der aus Irkutsk stammende Pianist Denis Mazujew lernte dort auf einem Instrument der Marke Tjumen.
Vor Ort bricht jedoch die Gewaltgeschichte über die Autorin herein, die sie aus einer Fülle von Quellen zum Sprechen bringt. In Jekaterinburg vergegenwärtigt sie den Mord an der letzten Zarenfamilie und fahndet nach dem Klavier, auf dem die Zarin bis vor ihrem Tod spielte. In Magadan erzählt sie von GULag-Greueln und sucht den Flügel, auf dem der hier inhaftierte Tenor Wadim Kosin bei seinen Auftritten vor Gefängnisaufsehern begleitet wurde. In der einst wohlhabenden Handelsstadt Kjachta an der mongolischen Grenze, wo während des Bürgerkriegs der weiße Warlord Baron von Ungern-Sternberg wütete, findet sie einen edlen Bechstein, der aber keinen Ton mehr hervorbringt.
Zugleich trifft sie immer wieder Menschen, die trotz großer Entbehrungen der Musik treu bleiben und aus ihr Kraft ziehen. Wie die sechsundachtzigjährige Nina in Chabarowsk, die, bitterarm aufgewachsen, auch dank ihres frühen Klavierspiels, sich eine brennende Forscherneugier für ihr Land bewahrte. Oder der ehemalige Flugnavigator Leonid Kaloschin, der in ein Altai-Dorf zog, um dort eine Gemeindebibliothek und einen Konzertsaal zu eröffnen. Oder die Klavierstimmerdynastie der Lomatschenkos in Nowosibirsk, deren erstes Familien-Instrument, das Grotrian-Steinweg-Pianino, auf einer weiteren sibirischen Reise in die Mongolei umzog, wo Odgerel Sampilnorov es wegen seines träumerischen Timbres auf den Namen "Cantabile" taufte.
KERSTIN HOLM
Sophy Roberts: "Sibiriens vergessene Klaviere".
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 398 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.