Besprechung vom 25.03.2025
Sprachliches Wellenreiten
Flucht und Lust: Sulaiman Addonias erotischer Exilroman "Die Sehenden"
Die Mutter ist ein Stern, der Vater ist ein Stern, und als Hannah eines Abends in London aus dem Fenster schaut, kann die Geflüchtete im Teenageralter kaum der Verlockung widerstehen, "mit meinen Eltern zwischen den Sternen herumzuspazieren". Es ist der Abend nach einem Tag, den Hannah mit Warten auf den Asylbescheid des "Home Office" verbracht hat. Diese kleine Szene sagt viel aus über den Stil des Autors Sulaiman Addonia, der mit Hannahs Geschichte sein drittes Buch geschrieben hat: unter dem Titel "Die Sehenden". Dessen Sprache begibt sich kaum in die Nähe von psychologischen oder diskursiven Termini, sondern sucht nach der Wahrnehmung innerer Bilder, die der Komplexität der Vorgänge, bevor sie eingeordnet werden, gerecht wird.
Uneindeutigkeit wird hier weniger zelebriert als ermöglicht. So bleibt auch bis zum Ende offen, ob die Kreuzchen des "Home Office" bei "schwarzafrikanisch", "weiblich" und "heterosexuell" Hannahs Identität entsprechen oder nicht. "Wer sind wir denn, wenn wir unsere Geschichten vereinfachen müssen, um in Frieden zu leben?", fragt die Protagonistin rhetorisch. Damit meint sie nicht nur die Kreuze, sondern vor allem die Mischung aus politischem und persönlichem Kontext, die in Fluchtgeschichten oft so dosiert werden muss, dass sie den Vorstellungen der Entscheider entspricht.
Sulaiman Addonia hat sich mit seinem neuen Roman als eine Stimme in der Literaturwelt etabliert, die Seltenheitswert hat. Einerseits schreibt er, indem er die Durchdringung von arabischen, afrikanischen und europäisch-amerikanischen Erzähltraditionen faszinierend spürbar macht, vor dem Hintergrund einer Weltliteratur, die in dieser Breite nur selten präsent ist. Anderseits verbindet er die Erfahrungen aus Afrika stammender Geflüchteter mit dem Drang, seinen Protagonisten auf dem Weg sexueller Befreiung und Selbstverwirklichung zu folgen. In einem Interview mit "The London Magazine" sprach Addonia darüber, dass der Prozess, seinen Protagonisten solche Freiheiten zuzustehen, für ihn ein harter Kampf gewesen sei.
Auch das Ergebnis ist nicht ohne. So, wie Hannah sich beim Lesen des sexuell expliziten Tagebuchs ihrer Mutter, dem einzigen Gepäckstück, das sie nach London mitgebracht hatte, übergeben musste, so wird auch ihrem Lesepublikum einiges zugemutet. Als eine Referenz, die ihm im Prozess des Schreibens bewusst wurde, nennt der Autor im Nachwort Anne Desclos' berühmten sadomasochistisch-erotischen Roman "Geschichte der O". Interessanterweise arbeitet er hier jedoch auf andere Art mit Dosierung: Dadurch, dass seine ringende Ich-Erzählerin nie mehr von ihren eigenen Motivationen oder jenen anderer preisgibt, als sie sich selbst zumuten und zutrauen kann, wird eine vorsichtige Solidarität ermöglicht.
Ebenfalls im Nachwort zu seinem in einem Absatz geschriebenen Roman, der im besten Sinn auch als Novelle durchgehen kann, behält sich Addonia einen eigenwilligen Dank vor. Er dankt den Pflanzen und dem Wasser der Étangs d'Ixelles (zwei größeren, kontinuierlich von Joggern umkreisten Ententeichen im Zentrum von Brüssel), die sein regelmäßiges Vorlesen von Gedichten mit der Inspiration zu "Den Sehenden" beantwortet hätten. Dadurch wird eine weitere, ganz eigene Komponente in der Welterfahrung des Autors unterstrichen, die er auch an seine Protagonistin weitergibt. Denn die liebt - zumindest in ihrer Zeit als Obdachlose - "die Natur mehr als Menschen" und kommuniziert mit ihr mittels Versen verstorbener Dichter. Ein weiterer Aspekt, den dieser Dank betont, ist Addonias Verbundenheit mit der Stadt Brüssel, in der er sich 2009 niedergelassen hat. Dort hat der Autor inzwischen das "Asmara-Addis Literary Festival (In Exile)" sowie, mit Unterstützung des Stadtteils Ixelles, einen Kreatives-Schreiben-Workshop für Geflüchtete etabliert. Der wird jeweils geleitet von Autoren, die sich zwischen mehreren Sprachen bewegen. Bei Addonia selbst sind es inzwischen mindestens fünf: Arabisch, Amharisch, Tigrinya, Englisch, Flämisch. Seine literarische Sprache ist das Englische, das er erst lernte, als er - wie Hannah - als unbegleiteter eritreischer Flüchtling nach London kam.
Dieser Erfahrung der Mehrsprachigkeit, mit der ein Misstrauen gegenüber Sprache als ultimative Ausdrucksmöglichkeit einhergeht, war Addonia in seinem zweiten Roman mit dem (scheinbar) programmatischen Titel "Schweigen ist meine Muttersprache" nachgegangen. Mehrsprachigkeit ist auch in "Die Sehenden" präsent, sowohl als Türöffner für das Ausdruckspotential von Sexualität als auch als neu entdecktes Lustprinzip: Am Anfang zeigt Hannah einen Zettel vor, auf dem in Großbuchstaben steht: "Ich spreche Tigrinya, Amharisch und Arabisch." Am Ende, nur wenige Wochen, dafür aber viele Fernsehsendungen und Lektüren weiter, heißt es: "Viele von uns reiten Akzente wie Wellen, gleiten gekonnt zwischen Estuary, Cockney und Posh hin und her, was ein Muttersprachler nie könnte oder wollte." Ein kritisches Verhältnis zur Sprache bedeutet hier also nicht weniger Sprachlust. "Wörter sind meine Kultur", lautet eine von Hannahs wenigen Gewissheiten. Und damit ist ihr zumindest auf diesem Gebiet vertraut, was sie in anderen Beziehungen sucht: der Schnittpunkt der Koordinaten Zuflucht und Lust. ASTRID KAMINSKI
Sulaiman Addonia:
"Die Sehenden". Roman.
Aus dem Englischen von Sula Textor.
Orlanda Verlag,
Leipzig 2025.
176 S., geb.
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