Besprechung vom 05.02.2025
Dreizehnjährig neunmalklug
Ein Enfant terrible war auch der Verfasser selbst: Yukio Mishimas neu übersetzter Roman "Der Held der See"
Literarische Wiederentdeckungen haben es nicht leicht auf dem Buchmarkt, müssen sie sich doch gegenüber einer beträchtlichen Masse an Neuerscheinungen behaupten. Hätte man sich dabei am hiesigen Echo auf die erste deutschsprachige Ausgabe des soeben erschienenen Romans von Yukio Mishima orientiert, so wäre diese Neuübersetzung vermutlich nicht in Auftrag gegeben worden. Damals, 1970, noch zu Lebzeiten des Autors, hieß es in einer immerhin recht ausführlichen deutschen Zeitungskritik, es handele sich um "ein schwaches Buch, das jetzt und überhaupt bei uns herauszubringen kein zwingender Grund bestand". Wie sich doch die Zeiten ändern! Andererseits liegt auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen den beiden Ausgaben, und um das Fazit vorwegzunehmen - ein frischer Blick auf Mishima lohnt sich allemal.
Bis in die Neunzigerjahre hinein war das Bild der japanischen Literatur hierzulande weitgehend von den international bekanntesten Namen, übrigens allesamt männlich, bestimmt. Die Spitze bildete das Dreigestirn aus Tanizaki, Mishima und Kawabata, der 1968 als erster Japaner - sowie als erster Autor einer nicht europäischen Sprache überhaupt - den Nobelpreis für Literatur erhielt. Dem mehrfach für den Preis nominierten Mishima haftete indes schon zu seinen Lebzeiten das Etikett des umstrittenen Künstlers an, das er sich zum einen durch seine exzentrischen Vorlieben wie Bodybuilding, Auftritte in zweitklassigen Samurai- und Yakuza-Filmen, seine Verbindungen zur Demimonde und skandalbehaftete Romane nach aktuellen Figuren des Zeitgeschehens, zum anderen aber durch eine radikale Ästhetik eingehandelt hatte. Darin ging es ihm um eine Versöhnung von "Pinsel und Schwert", japanisch bun-bu, oder, um einen seiner letzten längeren Essays, "Sonne und Stahl", zu zitieren, um seine Verwandlung vom "Mann der Worte" zum "Mann der Tat". Eine Ästhetik, darauf gerichtet, von seiner eigenen Person abzusehen und den Blick aufs Ganze zu richten, die dennoch in radikaler Konsequenz das Werk mit dem Leben des Autors untrennbar verknäuelte, als dieser im November 1970, nachdem er am Morgen das Manuskript des letzten Bandes seiner Tetralogie "Das Meer der Fruchtbarkeit" im Verlag abgeliefert hatte, vor aller Welt nach einem von vornherein zum Scheitern verdammten Putschversuch Selbstmord durch Seppuku, die rituelle Selbstentleibung durch Bauchaufschlitzen, beging.
Spätestens von diesem Moment an, der die japanische Öffentlichkeit gründlich verstörte und weltweit Schlagzeilen produzierte, galt Mishima vielen als nicht tragbar, ordnete man ihn doch aufgrund seiner bizarren späten Aktionen und mancher gegenwartskritischen und teils abstrusen romantisch-revolutionären, den Tenno verherrlichenden Äußerungen als ultranationalistisch und faschistoid ein. Doch der 1925 geborene Autor, der 1949 mit "Bekenntnisse einer Maske", einer autobiographisch grundierten Coming-of-Age-Geschichte, zugleich einer Gay Novel avant la lettre, trotz des Tabubruchs seinen endgültigen Durchbruch feiern konnte, dieser Mishima hatte als äußerst produktiver Schriftsteller mit seinem Schaffen so viele Pflöcke eingeschlagen und Spuren gelegt, dass die japanische und zunehmend auch die internationale Leserschaft und Kulturgemeinde ihn nicht auf Dauer zu ignorieren vermochten.
Mishima bespielte sämtliche Genres, hinterließ Lyrik ebenso wie international erfolgreiche Dramen nach klassischen und modernen Stoffen, brillierte als Essayist und Literaturkritiker und verfasste Meisterwerke wie den philosophischen Roman "Der Tempelbrand" beziehungsweise "Der Goldene Pavillon" oder grandiose Erzählungen wie "Tod im Hochsommer". Daneben bediente er mit Science-Fiction- und Trash-Romanen auch das leichtere Unterhaltungssegment.
Mit dem 1963 erschienenen kurzen Roman "Der Held des Meeres" lernen wir Mishima gewissermaßen at his best kennen, denn er zeigt sich darin als versierter Erzähler einer Story, die zwar eindeutig und mit vielen sprechenden Details in der oberflächlich saturierten und konsumorientierten, aber unterschwellig brodelnden Nachkriegsgesellschaft spielt. Die Themen indes, die das Buch verhandelt, und die lässige, zugleich punktgenaue Charakterisierung der Figuren weisen weit über seine Zeit und Generation hinaus.
Der Schauplatz ist legendär. Die exklusive Yamate-Gegend von Yokohama mit Blick auf den Hafen. Dort wohnt die elegante Fusako, seit einigen Jahren verwitwet und Mutter des dreizehnjährigen neunmalklugen Noboru. Die beiden lernen Ryuji kennen, der "Seemann wurde, weil er das Land hasste". Mit zwanzig hatte er nur von Ruhm geträumt, ohne Ahnung, wie der denn zu erreichen wäre. Die Welt auf den Kopf zu stellen, dieser Traum von Umsturz aber ließ sich, das wurde ihm durch das reglementierte Leben an Bord und die "wohlgeordneten Gesetze der Natur" klar, auch als Seemann nicht erfüllen. Eine Veränderung in seinem Leben war fällig, und so lässt er sich auf die verführerische Fusako ein. Der Sohn wiederum, der das Paar durch ein Guckloch beim Liebesspiel beobachtet, brüstet sich vor den Mitgliedern seiner Schüler-Gang damit, endlich einen richtigen Helden ausgemacht zu haben. Die Jungen verachten nämlich die im Wiederaufbau- und Konsumrausch verweichlichten Väter. Der Anführer der Bande predigt gefühllose Härte in einer Zeit, die keine echte Gefahr mehr kenne. Ihr pubertärer Nihilismus verlangt nach Gewaltakten, um der saturierten Gesellschaft eine Ahnung von Risiko und Hingabe für ein überpersönliches Ziel zu geben. Probe aufs Exempel ist das Abhärtungsritual, das Noboru auferlegt wird: die Tötung einer kleinen Katze mit anschließend ausführlich abgeschilderter Sezierung des Tiers durch den Bandenboss, bei der alle wortlos zusehen.
In scharfen Schnitten wechseln die Perspektiven zwischen den Alltags- und Traumwelten der Erwachsenen wie der Jungen. Der Erzähler leuchtet sie mit geradezu filmischer Anschaulichkeit aus. Auf den Sommer folgt der Winter, der Seemann meldet sich von einer weiteren Fahrt durch die halbe Welt zurück. Als sich abzeichnet, dass er sich endgültig für das Leben an Land entschieden hat, wandelt sich auch Noborus Bewunderung in Hass. Szene auf Szene entfaltet der Roman Thrillerqualitäten. Etwa im Moment, als seine Mutter und Ryuji dem Jungen behutsam beibringen wollen, was er doch schon längst geahnt hat, wobei er selbst den Naivling spielt.
Jede Figur kommt erzählerisch zu ihrem Recht, wird ernst genommen und kann sich doch dem Gang der Dinge nicht entziehen, den wir schaudernd lesend verfolgen. Die für Mishima typischen Elemente Erotik und Tod, Liebe und Verrat, Weltverachtung und der Wunsch nach Anerkennung werden hier ohne großen philosophischen Ballast in eine kompakte, fesselnde Story mit stellenweise seherischen Qualitäten gegossen.
Neue Generationen entdecken Mishima, ohne ihn von vornherein auf die Anstößigkeit seiner Poetisierung des Politischen festzulegen. In der von Ursula Gräfe versiert übersetzten Fassung lesen wir ihn im coolen Erzählton des 21. Jahrhunderts. IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Yukio Mishima: "Der Held der See". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Kein & Aber, Zürich 2024. 208 S., geb.
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