Besprechung vom 29.10.2024
Lieferheld auf Abwegen
Zerplatzte Träume nach dem Ende der Sowjetzeit: Iwa Pesuaschwilis Roman "Müllschlucker" zeichnet nach, was die georgische Gesellschaft seit der Unabhängigkeit zerstört.
Wie sie dieses Rattenbuffet hassen, diese Autobahn des Ekels! Gemeint ist der Müllschlucker, dessen Gestank bis in die Wohnung der Familie Simonyan dringt. Die liegt direkt neben dem übel riechenden Schlund eines 16-Geschossers im Meer-Viertel der georgischen Hauptstadt Tiflis, einem sozialen Brennpunkt, den gerade chinesische Investoren im Klüngel mit Lokalpolitikern für sich entdecken. Manchmal zündet Gena, dysfunktionales Oberhaupt dieser dysfunktionalen Familie, den Schacht mit Kerosin an. Doch mit dem Gestank ist es wie mit den Hinterlassenschaften der Sowjetunion, sie verrotten einfach nicht, sondern gären und mutieren immer weiter vor sich hin. Hunger, Entsetzen und Hass, das sei die Heilige Dreifaltigkeit vom Anfang und Ende dieses Imperiums!
Genau am 9. April 2017, einen Tag lang, folgen wir als Leser den vier Simonyans durch die georgische Hauptstadt, ein wortgewaltiger, mit beißender Ironie ausgestatteter Parforceritt durch die Abgründe einer Gesellschaft, in der aus den Trümmern des Kommunismus ein korruptes, nationalistisch-pseudoklerikales Staatskonstrukt entstanden ist, das sich längst auf dem Weg in eine Autokratie von Russlands Gnaden befindet. Der neunte April ist ein zweischneidiges Datum in der Geschichte des Landes, erinnert er doch an die georgische Unabhängigkeit 1991 und gleichzeitig an ein Massaker des sowjetischen Militärs 1989, bei dem einundzwanzig vor allem junge Demonstranten umkamen. Und: Es ist Mila Simonyans Geburtstag, der sechsundvierzigste, an den sich keiner in der Familie zu erinnern scheint.
Die Simonyans sind Armenier und wurden Ende der Achtzigerjahre von den Eruptionen des zerfallenden Imperiums quer durch den Kaukasus geschleudert, jenen bis in die Gegenwart nachhallenden Pogromen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Schwarzen Januar 1990. Damals floh Gena mit seiner Jugendliebe Mila, der kleinen Tochter und seinem alten Kinderfahrrad über Eriwan und Baku ins georgische Tiflis, wo er zum Helden avancierte, nachdem er als einfacher Polizist den Präsidenten während eines Attentatsversuches vor dem Schlimmsten bewahrte.
Inzwischen ist er gleichsam unter den Trümmern der Sowjetzeit verschüttet, der Schatten eines Helden, dessen Ehrenpension längst von der Inflation aufgefressen wurde. Die meiste Zeit vegetiert er auf dem heimischen Sofa, während seine attraktive Frau als Friseurin den Lebensunterhalt verdient. Mina, die man sich als kaukasische Sophia Loren vorstellen darf, ist gerade auf dem Absprung in eine Affäre mit einem erfolgreichen Geschäftsmann. Auch weil ihr Mann seit Jahren sexuell nicht mehr in die Pötte kommt, nachdem der Sohn während eines wilden Beischlafs der Eltern fast in der Badewanne ertrunken ist. Dieser nun längst erwachsene Lazare, Hobbyrapper und Shaolin-Anhänger, düst tagtäglich mit seinem klapprigen Moped als Lieferheld durch den bleiverseuchten, chaotischen Hauptstadtverkehr, ein Kamikazejob und ein Studium des Betonkapitalismus, welches ihn die neureichen Ober- und Mittelschichtler gründlich hassen gelehrt hat.
Als Einzige der Familie könnte die 1989 geborene Zema den sozialen Aufstieg schaffen. Von der einfachen Schreibkraft brachte sie es mit Fleiß und Chuzpe in den gehobenen Polizeidienst, wo sie sich ein dickes Fell gegenüber den primitiven, sexistischen Sprüchen ihrer männlichen Kollegen wachsen ließ. Ihre alte Jugendliebe Nugo stieg zum kleinkriminellen Bandenchef der Siedlung auf, auch weil er in den blutigen Neunzigerjahren als Halbwaise das Überleben in Brotschlangen mit den Fäusten lernen musste, während die jüngere Zema den Bürger- und Bandenkrieg auf den Straßen als klangvolle "Untermalung eines Wiegenlieds" wahrnehmen durfte.
Und Gena: Der degenerierte zum lebenden Leichnam, als er die mit ethnischer Hetze vergifteten Früchte vom sowjetischen Baum der Erkenntnis aß und dabei nicht nur seinen Mut, sondern auch seinen besten Freund begraben musste. Weil damals und heute nichts so gut funktioniert wie Angst und Neid, weil der Staat seine Menschen anstelle mit Nahrung und Fürsorge mit Hass füttert, "als wäre es Manna vom Himmel". Unschuldig kann dabei niemand bleiben.
Der 1990 geborene Iwa Pesuaschwili arbeitet als Dokumentarfilmer, ist Autor von drei Romanen und einem Erzählband und war bis 1923 Vorsitzender des PEN-Zentrums Georgiens (F.A.Z. vom 25. Oktober). Er zählt zur jungen Protestbewegung gegen das zunehmend autokratisch agierende janusköpfige Regime. "Müllschlucker" ist der zweite Band einer Trilogie über den Alltag in Georgien heute und gleichzeitig ein Debüt in deutscher Übersetzung. 2022 wurde das Buch mit dem Preis der Europäischen Union ausgezeichnet.
Natia Mikeladse-Bachsoliani präsentiert uns diesen wundervoll hintersinnigen, traurigen und zugleich wütenden Text in einer frechen, mit bitterer Ironie gespickten Sprache, die hin und wieder kurze Dialoge im Russischen belässt, ein Kunstgriff aus dem Original. Schließlich haben die Simonyans nicht nur ihr Kinderfahrrad, sondern ihr ganzes altes Leben verloren. In einem anderen angekommen sind sie nie. SABINE BERKING
Iwa Pesuaschwili: "Müllschlucker". Verloren in Tiflis. Roman.
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse- Bachsoliani. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024. 140 S., br.
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