Besprechung vom 05.04.2020
Ein kurzer Blick in die Zukunft
Die Leidenschaften eines Killers und die Operationen des "tiefen Staats": Jérôme Leroys Roman "Der Schutzengel" zeigt die Wirklichkeit - aber in einer anderen Schnittfassung
Manchmal, wenn es gut läuft, kann ein Roman auch in die Zukunft sehen. Als Jérôme Leroys "Der Block" 2011 in Frankreich erschien, war sein Szenario einer unmittelbar bevorstehenden Regierungsbeteiligung der extremen Rechten bloß eine Dystopie. Als das Buch 2017 dann auf Deutsch herauskam, schien ihm zur realistischen Diagnose nicht mehr allzu viel zu fehlen. Auch Leroys Roman "Der Schutzengel", der jetzt mit ebenfalls sechs Jahren Verspätung auf Deutsch erscheint, wirkt eher wie ein Bild der Gegenwart und nicht wie die hellsichtige Spekulation, die er einmal war. In einer Zeit, in der rechte Begriffe und Tropen längst in öffentliche Diskurse eingesickert sind, fällt die Diskrepanz kaum noch auf.
Das ist ein weiterer Beleg für die Überzeugung des fünfundfünfzigjährigen Franzosen, dass der Roman noir "eine zeitgemäße Form der Geschichtsschreibung" sei. Er habe die Wirklichkeit "verpixelt", schrieb Leroy im Nachwort zur deutschen Ausgabe des "Blocks", um juristische Konsequenzen zu vermeiden, weil in der politischen Formation des Titels natürlich mühelos der Front National und die Le Pens zu erkennen waren. "Verpixelung" war und ist eine treffende Metapher für Leroys Verfahren: Vieles wird gerade durch die kleinen Abweichungen vom "Original" umso kenntlicher.
Es gibt im "Schutzengel" ein Wiedersehen mit dem "Patriotischen Block" und dessen Vorsitzender Agnès Dorgelles, auch der Sicherheitschef Stanko samt seiner Schlägertruppe ist immer noch da. In der Innenpolitik der Fünften Republik hat sich nicht viel geändert. Leroy ist erneut tief eingedrungen in die Gedankenwelten der extremen Rechten. Und, was noch wichtiger ist: Er weiß, dass alle Recherche nur wenig brächte, wenn die eigene politische Überzeugung der erzählerischen Gestaltung die Hand führte. Deshalb gelingen ihm auch diesmal Porträts und Charakterstudien, die Handeln, Denken und Wirkungen anschaulich machen, anstatt nur ein paar Pappfiguren mit den üblichen Parolen aufzustellen.
Die Titelfigur ist ein Mann der Gewalt mit eigenem Kodex und mit Neigungen, die sich auf Dauer immer schlechter mit seinem Beruf vertragen. Berthet ist Agent der "Unité", einer Art Geheimdienst der Geheimdienste. Die "Unité" ist Teil des "tiefen Staates" - ein chamäleonartiger Begriff, der in linksliberalen Diskursen ebenso wie in denen von Alt-Right-Leuten wie Steve Bannon zirkuliert. Er soll die Verbindung von geheimdienstlichen, politischen und wirtschaftlichen Instanzen bezeichnen, die im Verborgenen operieren, hinter der Fassade von Gesetz, Moral und Verfassung.
Berthet ist ein Killer, der Gedichte liebt. Er hat Metzger gelernt. Kein Auftrag war ihm je zu krude. "Berthet ist ein Nostalgiker. Das weiß er. Dabei gibt es eigentlich nicht viel, dem er nachtrauern kann. Er hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als Mord, Folter, Erpressung, Destabilisierung, Manipulation, Vergewaltigung, Verstümmelung, Attentaten und Entführungen beschäftigt. Trotzdem ist Berthet ein Nostalgiker."
Und er hat noch eine Schwäche. Sie heißt Kardiatou Diop. Eine junge schwarze Frau aus der Banlieue von Roubaix, die es zur Staatssekretärin gebracht hat. Weil sie klug, durchsetzungsstark und kompetent ist, aber auch, weil Berthet, eher ein Engel aus der Hölle, an entscheidenden Punkten diskret nachgeholfen hat. Nun will die "Unité" ihn aus dem Weg räumen, während er seinen letzten Auftrag erledigt und Kardiatou in ihrem Wahlkampf gegen Agnès Dorgelles zu beschützen versucht.
Aber wir teilen nicht nur Berthets Sicht. Jedes der drei großen Kapitel des Romans hat einen anderen Blick auf das Geschehen. Martin Joubert, der mäßig erfolgreiche, unzufriedene Schriftsteller, der früher Lehrer von Kardiatou war, steht kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Für Geld tut er nicht alles, aber doch einiges, zum Beispiel sich als musterlinker Kolumnist in einem rechten Online-Magazin vorführen zu lassen. Sein Selbsthass prädestiniert ihn zum Biographen des literarisch anspruchsvollen Berthet. Und die Szene, in der Berthet in die Wohnung des verkaterten Joubert kommt, dort auf Stanko und dessen Schergen trifft, das ist ein böser Slapstick, wie ihn sich die Coen-Brüder nicht besser hätten ausdenken und inszenieren können.
Und schließlich ist da die Stimme des namenlosen Beraters von Kardiatou Diop, eines jungen Mannes aus wohlhabender Familie, den die Eliteschulausbildung zugleich mit einem Sicherheitsabstand zur realen Welt ausgestattet hat. Er verliebt sich in die junge Frau, er spricht über sie und zu ihr, tut alles für sie und wäre doch überfordert ohne einen Berthet.
Leroy hat diese drei Erzählstimmen so geschickt aufeinander bezogen, dass die Konstruktion nicht auseinanderfällt. Es gibt Überlappungen und perspektivische Korrekturen, weil der eine nicht weiß, was dem anderen längst klar ist. Doch sobald man Berthets Perspektive verlassen hat, verliert die Erzählung unverkennbar an Wucht und Originalität. Da wünscht man sich zwischendurch schon mal, dass Leroy, bei allen pointierten Formulierungen und Beobachtungen, an denen das Buch reich ist, eine andere Orchestrierung gewählt hätte.
Was beim Showdown der Kandidatinnen in der Provinz passiert, welche Rollen Engel und teuflische Kräfte dabei spielen - das kann jeder selbst nachlesen. Aber es lässt sich gefahrlos sagen, dass die Machenschaften und Intrigen, von denen das Buch erzählt, nie diesen Hautgout billiger Verschwörungstheorien haben. Leroy bewegt sich nah am Horizont des Möglichen. Was auch damit zu tun hat, dass die "Unité", dieser Meta-Geheimdienst, der sich als Wahrer der Staatsräson begreift, auf Dynamiken beruht, die aus der Soziologie vertraut sind: Wo eine Institution mit starken Machtmitteln ausgestattet und schwachen demokratischen Kontrollen unterworfen ist, verselbständigt sie sich auch denen gegenüber, die sie zu benötigen glaubten. Kaum zufällig wird im Roman mehrmals die berüchtigte italienische P2-Loge erwähnt.
So entsteht im "Schutzengel" eine Version der politischen Welt, die sich nicht einfach als sensationslüsterne Erfindung abtun lässt. Es ist, lässt der Cineast Leroy uns durch Berthet wissen, gewissermaßen eine andere Schnittfassung der Wirklichkeit. Man muss vielleicht nicht ganz so weit gehen wie in Don DeLillos "Sieben Sekunden", wo es einmal heißt: "Geschichte ist die Summe all dessen, was sie uns nicht erzählen." Aber weit entfernt ist Jérôme Leroy davon nicht.
PETER KÖRTE
Jérôme Leroy: "Der Schutzengel". Kriminalroman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, 352 Seiten, 20 Euro. Auch dieses Buch können Sie über Ihren lokalen Buchhandel beziehen.
Auf der aktuellen Krimibestenliste steht Jérôme Leroys Roman auf Platz fünf. Sie finden die Liste unter: https://faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/krimi/
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