Besprechung vom 19.03.2025
Viele Söhne sollen es sein
Das Wort Familienbande hat eben einen Beigeschmack von Wahrheit: Roberto Saviano befasst sich mit Liebes- und Heiratssachen in der Mafia.
Will eine Frau es in der Mafia zu etwas bringen, gelten seit jeher bestimmte Regeln: Sie sollte möglichst früh, möglichst jungfräulich und ohne Murren einen Mann heiraten, den ihr Vater oder ein mächtiges Clanmitglied für sie ausgesucht hat. Anschließend bekommt sie möglichst schnell möglichst viele Söhne. Muss ihr Mann länger hinter Gitter oder untertauchen, kümmert sich die ideale Gattin gewissenhaft um die Geschäfte und ist sich auch nicht zu fein, einen Mord in Auftrag zu geben, sobald jemand an der Familienehre kratzt.
Wenn eine Frau in den Clan der Corleonesi, einen Zweig der sizilianischen Cosa Nostra, einheiratet, stehen die Chancen vergleichsweise gut, dass der Mann nicht fremdgeht. Die Corleonesi sind die Puritaner der Mafia, sie meiden Drogen, Alkohol und Glücksspiel. Ein Corleone-Pate, der etwas auf sich hält, hat nur Augen für die Mutter seiner Kinder. Ganz anders die Camorra in Kampanien. Hier ist die Gattin dazu angehalten, Seitensprünge zu tolerieren. Denn je mehr Frauen ein Camorrista gleichzeitig bei Laune hält, desto größer sein Ansehen als Anführer und Stratege. Die Ehefrau dagegen, das gilt für Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangetha gleichermaßen, hat unter allen Umständen treu zu sein.
Wie mächtig solch archaische Rollenbilder bis heute sind und welche Konsequenzen es hat, wenn ihnen nicht entsprochen wird, illustriert Roberto Saviano unter dem Titel "Treue". In zwölf Kapiteln liefert Italiens berühmtester Mafia-Aufklärer Einblicke in Liebes- und Familienangelegenheiten, wie sie sich im Schatten der organisierten Kriminalität abspielen. Gestützt auf eigene und fremde Recherchen, auf Zeitungsberichte und Gerichtsakten, rekonstruiert Saviano historisch verbriefte Verbrechen und blutige Tragödien kurz vor und nach der Jahrtausendwende in Form literarischer Reportagen.
Erzählt wird das Schicksal einer jungen Mafioso-Gattin, die sich das Leben nahm, weil der männliche Nachwuchs ausblieb. In einer Episode verspielt ein Kleinkrimineller seine Frau als Einsatz beim Poker. An anderer Stelle geht es um die Ex-Geliebte eines Paten, die sterben muss, weil ihr Sohn als Bedrohung der offiziellen Erbfolge wahrgenommen wird. Neben Frauen, die im männlich dominierten Paralleluniversum der Mafia zu Opfern werden, haben auch Handlangerinnen, Komplizinnen, Informantinnen, Anführerinnen, Täterinnen, Rächerinnen ihren Auftritt.
Wenn episodenweise entfaltet wird, wie der mafiöse Kult um Ehre, Loyalität, öffentliches Ansehen und Vendetta jeden noch so entlegenen Winkel des Privaten und Intimen durchdringt, sind reichlich Pathos und schematische Psychologisierungen mit von der Partie. Dennoch gelingt Saviano eine gründliche Entmystifizierung der häufig romantisierten kriminellen Halbwelt. Von einigen chaotisch erzählten Passagen abgesehen beeindruckt er einmal mehr durch die Fähigkeit, aus einer Fülle von Fakten, Namen, Daten und scheinbar unbedeutenden Details eine aufrüttelnde Geschichte zu machen. In seinem 2006 erschienen Enthüllungs-Bestseller "Gomorrha" hat Saviano diese Fähigkeit erstmals öffentlich unter Beweis gestellt. Seither erhält er Morddrohungen und kann sich nur unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen. Auch muss sich Saviano immer wieder als Nestbeschmutzer beschimpfen lassen. Derzeit werden in seinem Geburtsort Neapel neue Folgen der Serienadaption von "Gomorrha" gedreht, begleitet von wütenden Protesten Einheimischer, die das Image der Stadt besudelt sehen.
Obgleich der Untertitel der deutschen Fassung von "Treue" keineswegs zu viel verspricht, wenn er einen Beitrag über "Frauen in der Mafia" ankündigt, wird diese thematische Schwerpunktsetzung von Saviano nicht ausdrücklich vorgenommen. Folgt man seiner einleitenden Bemerkung, geht es ihm in einem denkbar allgemeinen Sinn darum, "wie die Mafia mit dem Gefühlsleben, dem Romantischen, der Sexualität umgeht". So werden die Seiten neben zwangsverheirateten Neapolitanerinnen, unheilvoll verliebten chilenischen Drogenhändlerinnen, flirt- und gewaltbereiten Halbstarken auch von schwulen italoamerikanischen Mafiosi bevölkert. Dazu zählt der 1992 ermordete John D'Amato, dessen Schicksal die Macher des Serienklassikers "The Sopranos" inspirierte. Als skrupelloser Bandenführer genoss D'Amato hohes Ansehen in Mobster-Kreisen. Sobald Gerüchte über seine Homosexualität aufkamen, hatte er sein Leben verwirkt.
Nicht zuletzt liefert Saviano interessantes Anschauungsmaterial zur Frage nach geschlechtsspezifischen Formen der Grausamkeit. Besonders einprägsam wird der Fall von Anna Carrino geschildert, der Gattin eines Camorra-Chefs, die jahrelang den Sadismus ihrer Schwiegermutter erdulden musste, bis sie schließlich deren Rolle als weibliches Clan-Oberhaupt einnahm. Als mustergültige Patin regelte Anna Carrino nicht nur sämtliche Angelegenheiten ihres inhaftierten Mannes, sondern strafte auch gründlich all jene Lügen, die behaupteten, Frauen seien grundsätzlich die besseren, empfindsameren Menschen und daher unfähig, ihre Familie zu beschützen. Übertroffen wurde Carrinos Brutalität allenfalls von der langjährigen Geliebten ihres Mannes, Angela Barra. Nachdem sich Barra das Vertrauen einer jungen Frau erschlichen hatte, kidnappte sie diese mithilfe zweier Komplizen. Einen guten Monat folterte Barra ihr Opfer aufs Bestialischste. Dem Bösen ist es völlig gleichgültig, welchem Geschlecht die Person angehört, durch die es wirksam wird. MARIANNE LIEDER
Roberto Saviano: "Treue". Liebe, Begehren und Verrat - die Frauen in der Mafia.
Aus dem Italienischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Hanser Verlag, München 2025. 268 S., geb.
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