Bisher hatte ich noch kein Buch von Annett Gröschner gelesen, nun denke ich, das war ein Fehler. Denn Schwebende Lasten hat nicht umsonst schon einige Vorschusslorbeeren bekommen, auch die großen Tageszeitungen (WELT, FAZ) ließen es sich nicht nehmen, schon zum Erscheinen sehr umfangreiche und positive Rezensionen zu veröffentlichen. Dass dabei auch jede Menge Spoiler das Licht der Welt erblickten, ließ mich schlagartig zu diesem Buch greifen, das ich nach mehreren Anläufen seit Wochen als Rezensionsexemplar vor mir hergeschoben habe. Und ich wurde nicht enttäuscht. Meine Vorliebe für Familiengeschichte, historische Romane und Geschichte im Allgemeinen, deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz besonders, wird von diesem Buch tatsächlich voll erfüllt.
Hanna, geboren 1913, aufgewachsen ohne Eltern, aber mit ganzen und halben Schwestern, wird Blumenbinderin, sie bevorzugt auch später noch diese Bezeichnung, Floristin will ihr nicht über die Lippen. Sie wird für einige Zeit nach Berlin vermittelt, wird Haushaltshilfe bei ihrer halben Schwester Margarete und schnuppert dort in den frühen 1930er Jahren die Großstadtluft. Wieder zurück in Magdeburg, heiratet sie und hat einen kleinen Blumenladen in der ärmsten Gegend der Stadt, gleich an der Johanniskirche. So wird dann auch ihr Erstgeborener Johannes heißen, Johannis war für den Standesbeamten nichts.
Das erste bisschen Wärme und Zuneigung, die sie in ihrem Leben erfährt, kommt tatsächlich von ihrer Schwiegermutter Sibylle, der eigene Mann ist da wesentlich zurückhaltender. Was aber nicht verhindert, dass Hanna insgesamt sechs Kinder bekommen wird. Sie quält sich mit dem täglichen Leben und Überleben ab, Karl, ihr Ehemann hilft, mehr oder weniger begeistert, besorgt Blumen, fährt Blumen aus. Nur mit der Kindererziehung hat er es nicht so. Beim Großen hat er den Verdacht, dass der von den Großeltern zu sehr verpimpelt wird. Diesen herrlichen Ausdruck habe ich schon ewig nicht gehört, kenne ihn aber aus meiner Kindheit noch gut.
Hanna ist eine Frau mit starkem Willen, mit Humor und Durchsetzungskraft, was ihr nicht nur in den langen Kriegsjahren hilft, auch später wird sie sich nie unterbuttern lassen. Wer, wie ich die erste Hälfte des Lebens in der DDR gelebt hat, wird vieles wiedererkennen oder entdecken, woran er lange nicht gedacht hat. Zum Beispiel der Tag des Lehrers, 12. Juni, den hätte ich fast vergessen. Nun sehe ich aus Blumenhändlersicht, der Tag war wirklich günstiger für einen hübschen Blumenstrauß als der 8. März. Da gab es, wenn überhaupt, eigentlich nur Tulpen.
Die Geschichte der Tochter Judith hat mir persönlich besonders gut gefallen, mich sehr bewegt, ich heiße auch so, bin aber fünf Jahre jünger. Mit einem Republikgeburtstag kann ich nicht mithalten, aber ich kann mir das Leben dieser Judith sehr gut vorstellen. Hier wird die DDR geschildert, wie sie von normalen Leuten eben wahrgenommen wurde. Und das war oftmals sehr ambivalent. Annett Gröschner bietet dem Leser hier die DDR pur und live an. Hanna hat ihr Kreuz damit.
Fast alle Kapitel hat Annett Gröschner mit einem Blumennamen versehen und die Beschreibung mitgeliefert. Erst im Laufe des Lesens kam ich hinter das Geheimnis dieses Blumenarrangements, und da ich nicht glaube, dass alle schon die oben erwähnten Spoiler gelesen haben, will ich das Geheimnis um die Blumenvielfalt hier nicht lüften. Ich fand es wunderschön und sehr poetisch, so wie sich im Buch immer wieder auch Poesie einschleicht in den lakonischen, teilweise auch ironischen Ton der Tatsachenbeschreibungen.
Fazit: Annett Gröschner hat ein Buch geschrieben, das ohne Zweifel auf das oberste Treppchen eines Literaturpreises gehört. Mir hat dieser Roman außergewöhnlich gut gefallen, Hanna bleibt mir gewiss lange in Erinnerung. Unbedingt 5 Sterne!
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