Im Hospital der Barmherzigen Schwestern in Wien kommt am 1. Juli 1972 ein kleines Mädchen zur Welt. Von ihrer Mutter ungewollt, kommt die kleine Steffi Dreier ins Zentrale Kinderheim in Wien. Am 2. November 1975 kommt sie als Pflegekind nach Rennau in der Steiermark auf den Hof der Familie Kellerknecht. Steffi ist nicht das erste Pflegekind der Familie, die zu jedem eigenen noch eines im Namen der Barmherzigkeit aus dem Heim aufnimmt.Was allein Steffi hier Schreckliches erlebt, wie sie ausgenutzt und gedemütigt wird, wie ihr Körper und ihre Seele missbraucht und traumatisiert werden, das lest ihr in dieser, wie ich finde, hervorragend geschriebenen Geschichte von Hera Lind. Allein die Nachworte der Autorin, von Steffi und ihrer Psychotherapeutin und Ärztin Karin Winkler sind so berührend, dass man das Buch unbedingt lesen sollte. Karin ist übrigens die Frau, die der kleinen Steffi als Praktikantin auf die Welt geholfen hat.Der neue Tatsachenroman von Hera Lind "Im Namen der Barmherzigkeit" greift diesmal ein Thema auf, an das sie sich bisher nicht herangewagt hat. Die Kinder, die hier einer Bauernfamilie in Obhut gegeben werden, werden wie Sklaven oder Leibeigene behandelt. Während die eigenen Kinder verhätschelt werden, gutes Essen, neue Kleidung und Schuhe bekommen und zur Schule gehen, lernen und mal was besseres werden sollen, müssen die Pflegekinder im Stall und auf dem Feld arbeiten bis zum umfallen. Großteils ohne Schuhe - weil, das härtet ab.Für mich war es beim Lesen immer wieder unvorstellbar, wie man ein kleines Wesen, oder auch die älteren Pflegekinder, die einem anvertraut sind, so abscheulich, mies und empathielos behandeln kann. Immer nur auf den eigenen Vorteil und den Vorteil der eigenen "echten" Kinder bedacht. Es ist bewundernswert, wie aus Steffi trotz all der Niederträchtigkeiten und Hindernisse, die sie auch später in ihrem Leben noch zu überwinden hatte, eine Frau wurde, die ihr Leben mit der Unterstützung von ihr wohl gesinnter Menschen jetzt im Griff hat.Hera Lind ist es mit ihrem gewohnt flüssigen und mitreißenden Erzählstil schnell gelungen mich mitten in die Geschichte und auf den Bauernhof der Familie Kellerknecht zu ziehen. Die Menschen, die ich hier kennenlerne, finde ich sehr treffend, vorstellbar und plastisch charakterisiert. Sie erzählt so fesselnd und bildhaft, dass ich es kaum geschafft habe, das Buch aus der Hand zu legen. Was ich hier zu lesen bekomme, jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken und manche Träne in die Augen, macht mich sprach- und fassungslos. Ich finde es unbegreiflich, wie die Mitarbeiterin des Jugendamtes hier immer wieder weggeschaut und die Kinder ihrem Schicksal überlassen hat. Und das alles für einen Fresskorb voller Genussartikel vom Bauernhof. Für mich einfach unfassbar.Ein weiterer gefühlvoller, einfühlsamer, sehr emotionaler Roman einer Autorin, die gerade solche Themen perfekt umzusetzen weiß. Der mich stark betroffen gemacht hat. Der hoffentlich aufrüttelt und die Menschen noch näher hin schauen lässt. Einen solchen Missbrauch von Kindern darf es nicht mehr geben.