Besprechung vom 22.02.2025
Morgens um fünf an der Parkbank
Janosch Schobin sondiert entlang von biographischen Erzählungen das Gefühl der Einsamkeit
"Zeiten der Einsamkeit" ist eine jener soziologischen Publikationen, die einem Anhänger der quantitativen Sozialforschung die Haare zu Berge stehen lassen. Janosch Schobin, ließe sich das Buch zusammenfassen, bereist den Planeten und trifft dabei einsame Leute. Da er sein Werk im Untertitel "Erkundungen eines universellen Gefühls" nennt, musste er das wohl - in die Ferne schweifen und diese Handvoll Menschen treffen, die in seinen Augen irgendwie besonders eindrücklich Ausprägungen moderner Einsamkeit verkörpern. Als da sind John aus Brooklyn, Marta und Doris aus Chile, Gisela aus Niedersachsen, Egon aus einer großen deutschen Stadt, Pete aus New York, Dolores aus Harlem und schließlich Natasha irgendwo aus Deutschland.
Wieso gerade die? Wie hat Schobin sie ausgewählt? John will er gefunden haben, indem er in Brooklyn die Kirchen "abklapperte". Pete morgens um fünf auf einer Parkbank, weil Schobins neu geborene Tochter nicht schlafen wollte. Und Egon, der nach seinem einsamen Lebensende noch wochenlang tot in seiner Wohnung lag, ist nicht einmal eine reale Person, sondern eine "synthetische Überblendung" sehr vieler ähnlicher Fälle, die Schobin bei Mitarbeitern von Ordnungsämtern gesammelt hat. Also: Man erfährt die Kriterien der Auswahl nicht, man muss es einfach glauben, dass das wohl die richtigen Einsamen sind.
Man könnte an diesem Buch vieles aussetzen. Da ist das Kokettieren mit einer falschen Bescheidenheit bereits gleich zu Beginn, wenn Schobin den Leser bittet, sein Werk mit einer "gewissen Großzügigkeit" zu lesen. Im schlimmsten Fall sei seine kurze Geschichte der modernen Einsamkeit nämlich ein "Kuriositätenkabinett", im besten Fall versammle sie wesentliche Variationen des Einsamseins "in etwas zugespitzten Darstellungen". Dann folgt ebendiese kurze Geschichte, in der Schobin zuerst von Francis Bacon zu Montaigne tänzelt, dann ist er schon bei Shakespeare und auch schnell im neunzehnten Jahrhundert bei Oscar Wilde, um schließlich mit Hermann Lübbe, Samuel Beckett und Heinrich Böll noch etwas über die "Nachkriegseinsamkeiten" beizubringen.
Schobin hat anscheinend nicht nur Kirchen abgeklappert, sondern klappert auch mit allerlei Bildung herum. Die Beatles, weiß er, fragten 1966 in ihrem Song "Eleanor Rigby" ja auch, wo all die einsamen Leute herkämen, und die Antwort falle gar nicht schwer: Sie seien gekommen "aus Auschwitz und auch Dachau, aus Nanjing und aus Warschau, von Omaha Beach und aus Stalingrad . . ." Dieser nervige Sound passt nicht zum Thema und schadet dem Buch eher. Auch manche Stilblüte hätte ein beherzter Lektor gestrichen. In Deutschland etwa "duften die Chefetagen der Dax-Konzerne nach Viagra", behauptet Schobin, und weckt damit erhebliche Zweifel, ob er schon mal da oben bei den Chefs war. Aber das macht eigentlich nichts, denn ganz unten auf den Parkbänken von New York gelingen ihm treffendere Beobachtungen.
Grundsätzlich muss Schobins Buch natürlich die Frage beantworten, was es den "Beschreibungen der Vereinsamung in spätmodernen Gegenwartsgesellschaften", die die Sozialwissenschaften "im Überfluss" lieferten, denn eigentlich noch hinzufügen kann. Repräsentative Beschreibungen sicher nicht, in den seinen verdichtet, assoziiert und komponiert er nach Gutdünken. Ob das Gedruckte wirklich die Essenz ist aus den 71 Interviews, die er zwischen 2012 und 2015 in Deutschland, Chile und den USA für das Buch geführt hat, ist für den Leser nicht kontrollierbar.
Schobin schreibt sicher keine Literatur, keine Fiktion. Aber die Mittel dieser Art des soziologischen Erzählens sind eben doch eher literarischer Art. Wer sich daran stört, braucht dieses Buch nicht aufzuschlagen. Wer sich aber darauf einlässt und dem Autor vertraut, der ein guter Erzähler und einfühlsamer Beobachter ist, wird von diesem Buch berührt sein. Einsamkeit wird bei ihm erfahrbar, miterlebbar, was in diesem Fall bedeutet: miterleidbar. Denn dass es sich um ein Leiden handelt, daran lassen Schobins Fälle eigentlich keinen Zweifel. Die Lektüre geht unter die Haut und gerät unweigerlich zur Selbstprüfung. Hat sich das Gift der Einsamkeit vielleicht auch schon in mein, in unser Leben eingeschlichen?
Aber Schobin legt keinen Katechismus vor, der den Leser zur Wendung nach innen auffordert. Das Buch, und hier erkennt man die Schule von Schobins akademischem Lehrer Heinz Bude, verknüpft mit sicherer Hand die biographi-schen Lebensschilderungen mit luziden soziologischen Begriffsbildungen, die am Individuellen die Dimension des Allgemeingültigen einsichtig machen. Der Anspruch, anhand der Schicksale von acht Menschen die Universalität eines Gefühls in der modernen Gesellschaft glaubhaft werden zu lassen, ist kein geringer. Die Großzügigkeit, um die Schobin zu Anfang bittet, sollte diesem Buch darum gewährt werden. GERALD WAGNER
Janosch Schobin: "Zeiten der Einsamkeit". Erkundungen eines universellen Gefühls.
Carl Hanser Verlag, München 2025. 224 S., geb.
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