Besprechung vom 29.01.2025
Der Cyborg und die Liebe
Lange hatte man nichts mehr von Jonas Lüscher gelesen. Nun meldet er sich mit einem Donnerschlag zurück: Sein Roman "Verzauberte Vorbestimmung" ist ein erzählerischer Triumph.
Das Jahr ist noch jung, aber die deutschsprachige Literatur hat nach Ursula Krechels "Sehr geehrte Frau Ministerin" (F.A.Z. vom 23. Januar) schon ihren zweiten exzellenten neuen Roman zu bieten: "Verzauberte Vorbestimmung" von Jonas Lüscher. Wobei man auf der Hut sein sollte bei diesem ausgefuchsten Schriftsteller. Wer aus dem Titel auf eine seelentröstende Geschichte schließt, liegt falsch. Lüschers über Jahrhunderte hinweg bis in eine nahe Zukunft reichender Roman steht in der aufklärerisch-skeptischen Traditionslinie von Voltaires "Candide oder der Optimismus", allerdings ohne jeden Zynismus. Denn Lüschers Ich-Erzähler hat die Grenzen der Glücksverheißungen des Lebens nicht nur erfahren, sondern auch erkannt. Und weiß, dass es nicht darum gehen kann, einfach immer weiterzumachen, sondern aufzuhören.
Fünfmal setzt dieser Roman an, darüber zu erzählen, und die Zeiten durchdringen sich. Wie überhaupt dem gängigen Erzählen und einer damit verbundenen Glaubwürdigkeit von Beginn an der Boden unter den Füßen entzogen wird. Da wird dem Ich-Erzähler von einem Freund namens Aimé die Geschichte von Jacques, einem aus Algerien rekrutierten französischen Soldaten des Ersten Weltkriegs, erzählt, doch dann heißt es bereits auf der dritten Seite des Romans: "Aimé hielt inne, schaute dem Rauch nach, der sich im Schirm der Stehlampe verfing. Vergiss diesen Jacques, sagte er, drückte den Zigarettenstummel mit übertriebener Kraft im Aschenbecher aus, als sei es möglich, zugleich mit der Glut eine Erinnerung zu ersticken, und setzte mit dem Anzünden einer nächsten Zigarette neu an: Vergiss Jacques, so heißt dich jeder (und vergiss Aimé, denke ich mir, so heißt doch keiner), vergiss ihn, sagte also . . . F. (F., Aimé macht das wirklich einen Unterschied?), vergiss ihn, das ist doch Kitsch (und dieses Gerauche? Das ist doch auch Kitsch. Das kann ich doch bleiben lassen - als würde eine Geschichte glaubhafter, wenn man sie mit dem Geruch von Tabak imprägniert und mit bedeutungsschweren Rauchwolken dekoriert)."
Doch es wird im zweiten Teil des Romans weitergehen mit der Lebensgeschichte dieses Soldaten, und sie wird über Pfade, die nicht minder verschlungen sind als die Rauchfahnen der Zigaretten, den Lebensweg von Peter Weiss kreuzen, dem Schriftsteller, auf dessen Spuren sich wiederum der Ich-Erzähler begeben hat, weil er einer Episode aus dessen Tagebüchern nachgeht, die vom Besuch in Hauterives berichtet, wo Weiss sich 1960 die durch die Surrealisten berühmt gemachte Architekturvision des Facteur Cheval angesehen hatte. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im dritten Jahr der Pandemie, begibt sich der Ich-Erzähler, seinerseits selbst Schriftsteller, dorthin, um das Aufgehen des Lebens im Traum und umgekehrt in Chevals "Palais Idéal" zu erfahren, und immer mehr denkt er sich dabei in die Erfahrungen von Peter Weiss hinein, bis er am Ende des dritten Kapitels eine Aufzeichnung referiert, die Weiss nach Bekanntwerden der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg machte: "Er glaubte, nun würde alles gut werden, es wartete eine Zukunft auf ihn, für die es sich zu leben lohnte." Wir sind über die Mitte der Handlung hinaus, und so ist klar, dass die Enttäuschung, die Weiss erleben musste, auch die seines späteren Kollegen in "Verzauberte Vorbestimmung" wird.
Was dann folgt, ist das Kernstück des Romans, ein Besuch des Ich-Erzählers im Jahr 2023 in der noch unter Präsident Mubarak östlich von Kairo begründeten Plan- und Verwaltungshauptstadt Neu-Kairo, die in der Zukunft mehrere Millionen Menschen aufnehmen soll. In dieser Zukunft imaginiert der Ich-Erzähler das Leben eines Mädchens, das er im Zug nach New Kairo beobachtet, und Lüscher liefert mit der Verquickung von Gegenwarts- und Phantasieeindrücken in diesem Kapitel ein schriftstellerisches Meisterstück. Ließen schon seine Schilderungen einer tristen Winterstimmung in der ersten Hälfte des Romans den Vergleich mit dem 1998 veröffentlichten und seither an Brillanz unerreichbar scheinenden Beschreibungskunststücks "Der Trubschachen-Komplex" seines Schweizer Landsmanns E. Y. Meyer zu, so ist die New-Kairo-Episode nun die neue literarische Messlatte. Und anders als Meyer verbindet Lüscher mit seiner szenischen Virtuosität eine visionär-melancholische Verspieltheit, die wiederum ans Beste erinnert, was Science-Fiction hervorgebracht hat, namentlich Philip K. Dicks "Do Androids Dream of Electric Sheep?", die Vorlage für den noch berühmteren Film "Blade Runner".
Lüscher hat eine Androidin, nein, eher eine Cyborg-Frau namens Kate zu bieten, die sich in einigen Jahrzehnten als Maschinenstürmerin betätigen wird, obwohl sie eine unsterbliche Menschmaschine ist. Sie ist die weibliche Candide dieses Romans, aber sie kultiviert nicht länger die Illusion eines harmonischen Lebens. Man darf in dieser Vision des Ich-Erzählers, die das fortsetzt, wovon der Roman zuvor erzählt hat - von den Illusionen des Facteur Cheval und des Peter Weiss und der Kämpfe der sogenannten Ludditen gegen die Mechanisierung der Arbeitswelt im frühen neunzehnten Jahrhundert (Maschinenstürmer wie Kate), aber auch von den Desillusionierungen dieser Träume -, die Summa der Lebenserfahrungen sehen, die ihn vor seinem Besuch in New Kairo mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert haben. Nur knapp hat der Schriftsteller eine schwere Erkrankung überlebt - mithilfe moderner Apparatemedizin, "mehr Cyborg war kaum möglich".
Nun gibt es bewusst gesetzte Signale im Roman, die eine Identität des Ich-Erzählers mit Jonas Lüscher nahelegen: So hat etwa der Ich-Erzähler gut zehn Jahre vor dem Gegenwartsgeschehen von "Verzauberte Vorbestimmung" eine Novelle geschrieben, die von einer englischen Hochzeitsgesellschaft in einer tunesischen Oase erzählt. Das aber ist der Gegenstand jenes Buchs, mit dem Lüscher 2013 Furore gemacht hat: "Frühling der Barbaren". Fortan galt er als eine der größten Literaturhoffnungen, aber sein Roman "Kraft" löste vier Jahre später diese Erwartung nicht recht ein. Danach schien Lüscher verstummt. Nun ahnt man, warum.
Verstummt allerdings mit Ausnahme eines schmalen Bändchens, das 2020 seine dreiteilige Poetikvorlesung von St. Gallen zugänglich gemacht hatte, betitelt als "Ins Erzählen flüchten". Darin plädierte der 1976 geborene Schriftsteller, der vor seiner Schreibkarriere im Filmmetier und akademisch tätig gewesen war, für eine "narrative Gesellschaft". Die stattdessen existierende sei "einer quantitativen Blendung erlegen", weil sie sich bei Beschreibungen komplexer Probleme mit sozialen Dimensionen auf Computermodelle verlasse. Dagegen will Lüscher anschreiben. In "Verzauberte Vorbestimmung" löst er den Vorsatz vollumfänglich ein.
Denn der Roman ist, was er beschreibt: Maschinenstürmerei. Gerade in der Person Kates, der femme-machine, die sich als dessen potentielle Nutznießerin gegen den im Neu-Kairo der Zukunft Wirklichkeit gewordenen Traum vom Transhumanismus auflehnt, wie dem Ich-Erzähler von dem zu seinem persönlichen Totenvogel verwandelten Peter Weiss berichtet wird: "Unter den ungläubigen Blicken einiger verwirrter Techniker, die in weißen Kitteln mit Patchkabeln hantierten, sei sie die Schränke mit den Festplatten abgeschritten, habe zielstrebig die ihre gefunden, sie mit beherztem Griff aus dem Rack gerissen, auf den Boden geworfen, den schweren Hammer erhoben, ihn über ihrem schräg sitzenden Hut mit dem blauen Band einen Halbkreis beschreiben lassen und ihn stumm, mit einem gewaltigen Krachen, auf den kleinen Blech- und Plastikkasten, der all ihre Erinnerungen enthielt, hinunterdonnern lassen."
Lüschers Buch ist selbst ein Donnerschlag. Ein Lebenszeichen nicht nur des lange vermissten Schriftstellers, sondern auch eines Erzählens generell, das politische und philosophische Ansprüche an die Literatur gleichermaßen erfüllt wie das Verlangen nach Form- und Sprachbewusstsein. Und Letzteres ist es, dem Lüscher mehr vertraut als dem schieren Intellekt - weil es menschlich sui generis ist. Wie die Liebe, die Kate erst zum Umdenken vom Mechanischen ins Menschliche gebracht hat. Aber das ist eine andere Geschichte, die in dieser Rezension unerzählt geblieben ist. "Verzauberte Vorbestimmung" steckt überhaupt voller Geschichten. "Du stellst schon wieder die falsche Frage", musste sich der Ich-Erzähler als letzten Satz in "Frühling der Barbaren" anhören. Mittlerweile gibt der Autor Jonas Lüscher einfach alle richtigen Antworten. ANDREAS PLATTHAUS
Jonas Lüscher: "Verzauberte Vorbestimmung". Roman.
Hanser Verlag, München 2025. 352 S., geb.
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