Stromlinien von Rebekka Frank hat mich sofort begeistert und das fing schon beim Cover an. Es zeigt ein Boot mit einer jungen Frau, die paddelt. Hinter ihr wirkt das Wasser türkisblau, ruhig und seicht, doch vor ihr wird es tief und dunkelblau, als würde es sie und uns Leser auf eine Reise ins Unbekannte mitnehmen. Besonders schön: Die Stromlinien sind nicht nur sichtbar, sondern auch fühlbar (man kann gar nicht anders, als beim Lesen die ganze Zeit drüberzustreichen).
Dieses Cover passt perfekt zum Buch, denn Stromlinien ist eine atmosphärisch dichte, vielschichtige Familiengeschichte, die mich komplett in ihren Bann gezogen hat. Rebekka Frank nimmt uns mit in die Landschaft der Elbmarsche und beschreibt sie so eindrucksvoll, dass ich beim Lesen förmlich mit Enna im Boot saß und die Elbe entlangfuhr. Ich habe so viel über diese Gegend gelernt: über den Einfluss der Gezeiten, die die Flussströmung mehrmals täglich umkehren, über die tiefen Fahrrinnen, die für riesige Containerschiffe geschaffen wurden, und die flachen Ufer, die dennoch erhalten blieben. Man spürt, wie viel Recherche in diesem Buch steckt und genau das macht es so lebendig und glaubwürdig.
Aber natürlich geht es nicht nur um die Landschaft. Im Zentrum der Geschichte stehen die 17-jährigen Zwillinge Enna und Jale, die bei ihrer Großmutter Ehmi aufwachsen, weil ihre Mutter Alea seit 38 Jahren im Gefängnis sitzt. Niemand spricht darüber, warum sie dort ist ein Familiengeheimnis, das sich erst im Lauf der Geschichte langsam entfaltet. Doch nicht nur dieses Schweigen wiegt schwer: Auch zwischen den Zwillingen, die sich eigentlich alles erzählen und ein enges Band haben, entstehen plötzlich Risse. Denn ausgerechnet in der Nacht vor Aleas Entlassung verschwindet Jale spurlos, und Enna muss sich der Situation allein stellen.
Rebekka Frank erzählt diese Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen, was sie noch intensiver macht. Wir erleben Enna und Jale in der Gegenwart, tauchen aber auch ein in Aleas Vergangenheit, die Ereignisse von 1984/85, die zu ihrer Verhaftung führten, und sogar in Geschichten, die 100 Jahre zurückliegen. All das fügt sich zu einem faszinierenden Gesamtbild zusammen und zeigt, wie stark die Vergangenheit das Heute beeinflusst.
Besonders gelungen finde ich die psychologische Tiefe, mit der die Autorin die Charaktere zeichnet. Es gibt Persönlichkeitsmuster, die sich durch die Familie ziehen Distanziertheit, Verschlossenheit, aber auch impulsives Verhalten, das oft drastische Folgen hat. Trotzdem wirken die Figuren nie wie Stereotypen. Sie sind lebendig, vielschichtig und so real, dass man mit ihnen mitfiebert und sie manchmal auch einfach nur in den Arm nehmen möchte.
Stromlinien ist ein Buch, das auf vielen Ebenen überzeugt: Die spannende Familiendynamik, die glaubwürdigen Charaktere, der gekonnte Spannungsaufbau und die wunderschön beschriebene Kulisse der Elbmarschen machen es für mich zu einem Meisterwerk. Dazu kommt der akribisch recherchierte Hintergrund, der dem Roman noch mehr Tiefe verleiht.
Nach dem ersten Buch von Rebekka Frank, welches ich bereits verschlungen habe, ist auch dieses wieder ein Hochgenuss und absolut empfehlenswert für alle Fans von Familienromanen mit Spannung und gut recherchierten Hintergründen!