Besprechung vom 07.01.2025
Kein Puzzleteil darf fehlen
On-off-Beziehung: Wolf Haas stellt in seinem Roman "Wackelkontakt" alles auf Anfang
Ein Mann und eine Frau, beide verdienen ihr Geld als Trauerredner, liegen auf dem Holzfußboden in der Wohnung des Mannes und setzen ein Puzzle zusammen. Das hatten sie auch schon etliche Jahre zuvor getan, doch als Franz Escher damals den Roman "Eine traurige Angelegenheit" über seine beruflichen Erfahrungen veröffentlichte und die Kollegin Nellie Wieselburger dort nur wenig verhüllt als Mitzi Stiegl porträtierte, bekam das gute Verhältnis der beiden einen Riss - auch weil er in seinem Roman das reale Thema ihrer kunstwissenschaftlichen Doktorarbeit in ein anderes verkehrte und so aus der Bildbetrachtung von "Die Enthauptung des Johannes" die eines anderen Gemäldes machte - "Die Madonna mit dem langen Hals". Sie sei ihm dafür aber nicht mehr böse, sagt Nellie nun, außerdem habe sie ihr Thema sowieso modifiziert. Es gehe jetzt allgemein um den Schnitt in der Malerei, und das "mehr formal".
Formal steht die Szene des gemeinsamen Puzzelns fast im Zentrum von "Wackelkontakt", dem neuen Roman von Wolf Haas. Auch inhaltlich findet sich dort auf wenigen Seiten und eher beiläufig erzählt ein raffiniertes Geflecht von aufeinander bezogenen Motivsträngen, wenn es um das Zerstören und Heilen geht, von Bildern wie dem geraubten und durch Schnitte zerteilten Caravaggio-Gemälde, dessen Puzzleversion sie gerade wieder zusammensetzen, ebenso wie von verpfuschten Lebensläufen, die im Fall des mit dem anspielungsreichen Namen Escher behafteten Protagonisten eng mit seinem Hobby, eben dem Puzzeln, zusammenhängen - hätte er sich damals bei seiner Geburtstagsfeier nicht gar so eifrig auf das Geschenk der von ihm heimlich geliebten Martine gestürzt und darüber die junge Frau selbst aus dem Blick verloren, wäre, so mutmaßt er zu Beginn des Romans, sein seither ziemlich einzelgängerisches Leben anders verlaufen.
Trennen und Zusammensetzen - was für die Logik des Puzzles gilt, strukturiert auch den ganzen Roman bis in seine äußere Form hinein. Den Wechsel der Perspektiven, der schon Haas' Vorgänger, den meisterlichen Roman "Eigentum", prägte (F.A.Z. vom 9. September 2023), treibt der Autor hier auf die Spitze, indem er den Erlebnissen Eschers einen zweiten Handlungsstrang gegenüberstellt: Escher wartet in der ersten Szene in seiner Wohnung auf einen Elektriker, der den Wackelkontakt einer Steckdose beseitigen soll, und vertieft sich dabei in einen Roman über einen Mafioso namens Elio, der als Kronzeuge seinen eigenen Tod vortäuscht und mit einer neuen Identität - nunmehr als Deutschschweizer "Marko Steiner" - flieht und ein Buch liest, in dem wiederum der Trauerredner Franz Escher einen Elektriker empfängt und diesen durch das jähe Wiedereinschalten der Sicherung ungewollt zu Tode bringt.
Beide Geschichten lösen einander immer wieder ab, wenn der Protagonist der einen zum Buch greift und die Perspektive so auf die andere Seite verlagert, bis dort die Lektüre fortgesetzt wird und das Pendel zurückschwingt - das Bild vom titelgebenden Wackelkontakt macht das sehr deutlich, und dass ihm in einem anderen Abschnitt des Romans eine durch Ruckeln ausgelöste Alarmanlage an die Seite gestellt wird, die letztlich zu einer Ehe führt, unterstreicht das noch, ebenso wie die Teilung des Romans in je einen "Off" und einen "On" überschriebenen Abschnitt.
Die Struktur vom Buch im Buch hat eine ehrwürdige literarische Tradition, und es liegt nahe, die unterschiedlichen Handlungsstränge dabei aufeinander zu beziehen. Indem Haas die Puzzle-Metaphorik so ausdauernd in den Vordergrund stellt, ist es für seine Leser keine Überraschung, dass - und auch: wie - Eschers Geschichte mit dem Schicksal des untergetauchten Kronzeugen zusammenhängt, dies in der Überzeugung, dass erst beide Teile ein vollständiges Bild ergeben. Umgekehrt ist nichts so schmerzlich wie das Fehlen eines Puzzleteils, was gegen Ende dann auf mehreren Ebenen behoben wird; nur der mögliche Zusammenhang zwischen der umschwärmten Martine und der späteren Nellie bleibt in der Schwebe, während gleich zu Beginn die Mütze des Angestellten von "Elektro Janko" beide Worte in einem gemeinsamen "O" zusammenbringt. Bis ins Letzte steht die Sprache des Romans im Dienst seiner Struktur.
Der Erzähler schwelgt in solchen Bezügen, und wer die Stadt Duisburg überzeugend mit der indogermanischen Sprachwurzel des Wortes "Witwe" zusammenbringt, ganz abgesehen von den vielen Witwen im Romanpersonal, der erfreut Leser, denen die Lust am Puzzlespiel nicht fernliegt. Souverän aber wird der Roman durch den Kunstgriff, beide Teile durch Gegensätze voneinander abzugrenzen, bevor sie rasant aufeinander zulaufen. Denn so zurückgezogen und kontemplativ der Trauerredner lebt, so ungestüm, tatkräftig und gewaltbereit der untergetauchte Mafioso. Und während sich die Escher-Handlung ganz gemächlich vollzieht, packt Haas in den Steiner-Teil ein halbes Leben - der Kronzeuge muss mehrmals neu anfangen, baut mehrere Geschäfte auf, zeugt eine Tochter und zieht sie vierzehn Jahre lang groß. Diese Ungleichzeitigkeit der immer deutlicher aufeinander bezogenen Teile hat den reizvollen Effekt, dass jene Ala, die ihrem Vater das Buch entwendet hat, das von Escher erzählt, dort irgendwann auf Spuren dessen stößt, was sie selbst einmal unternehmen wird - ganz so wie achthundert Jahre zuvor der mittelhochdeutsche Dichter Heinrich von dem Türlin in seinem Roman "Die Krone" den Artusritter Gawein auf einer Schale seine eigenen Heldentaten eingraviert finden lässt, die er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch vor sich hat.
Wo die Zeit je nach Betrachtung eine Schleife einlegt oder zur Fläche wird, ist die Gefahr nicht gering, dass ein Roman Leser verliert, die einer solchen Konstruktion nicht folgen möchten. "Wackelkontakt" gelingt das Kunststück, diese Struktur nachdrücklich als ein Mittel der Welterkenntnis zu etablieren. Denn während er auf der einen Seite davon spricht, wie sich eins ins andere fügt, wie die Teile aus Vergangenheit und Zukunft ineinanderpassen und die Gegenwart ergeben, so zeigt er auf der anderen Seite, dass wenigstens in der ästhetischen Fiktion rein gar nichts feststeht, das man nicht wieder umkehren könnte, keine Zerstörung, nicht einmal eine Enthauptung. Und schon gar kein Zerwürfnis zwischen zwei Menschen. TILMAN SPRECKELSEN
Wolf Haas: "Wackelkontakt". Roman.
Hanser Verlag, München 2025. 239 S., geb.
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