Das andere Mädchen. Welches andere Mädchen? Die Schwester. Die verstorbene Schwester. 10-jährig erfährt Annie von ihr. Gleichzeitig dazu erfährt sie die eigene Abwertung und die Höherstellung der Verstorbenen durch eine unbedachte Aussage der eigenen Mutter. Ein Trauma für die 10-jährige. Dies prägt sich ihr ein. Lässt sie nie mehr los. 2011 bringt die 1940 geborene Annie Ernaux dieses Buch in Frankreich heraus, 2022 folgt dann die deutsche Ausgabe bei Suhrkamp. Eine lange Zeit, um diesen Blick auf die tote Schwester zu veröffentlichen. Eine Zeit, die etwas über die Intensität dieses Blickes aussagt.
6-jährig verstarb die Schwester an Diphtherie. Zweieinhalb Jahre vor der Geburt von Annie. Was bei Annie Fragen aufwirft. Zersetzende Fragen. Annie war ein Einzelkind, ihre Eltern erst Arbeiter, dann Inhaber eines kleinen Ladens, ihre Möglichkeiten im Leben waren begrenzt. Gibt es Annie nur weil ihre Schwester starb? Der Tod als Grund für das eigene Leben!
Geredet haben Annies Eltern mit ihr nie über diese verschwundene Schwester, dieses andere Mädchen. Was die Verstorbene zu einer unerreichbaren Größe macht. Was bedeutet dies für Annie? Ist der Tod des anderen Mädchens, der verschwundenen Schwester der Grund für das eigene Leben? Kann man sich daran überhaupt messen? An einer Unerreichbaren? Am Tod?
Kann man eine Verbindung spüren zu einem nie gekannten Wesen? Annie kann dies und schreibt sich ihre Gedanken in diesem Buch, in einem Brief an die verschwundene Schwester von der Seele. Ein Versuch zu heilen. Ungemein berührend, trotz den wenigen Seiten.
Dieses Buch ist trotz der Kürze sehr empathisch, zeigt es doch ein tiefsitzendes Trauma, berührt die Autorin doch mit ihrem Versuch dieses Trauma zu bearbeiten. Zeigt dieses kurze Buch doch einen tiefsitzenden Schmerz und gleichzeitig zeigt es auch den Versuch dieses Trauma durch die Anteilnahme abzulösen. Annie Ernaux berührt mich hier tief. Ich bin neugierig auf weiteres aus ihrer Feder und hoffe, dass ich sehr bald die Zeit dafür finde.
Wunderbar gelesen von Maren Kroymann.