Besprechung vom 22.02.2025
Frau trifft Tiger, die Welt steht still
Wer möchte heute noch Verslegenden lesen? "Die Winterschwimmerin", Marion Poschmanns jüngstes Buch, ist ein Wagnis und zugleich ein erzählerischer Triumph.
Als Thekla an jenem Vorfrühlingstag in der kalten Ostsee badet, fliegt plötzlich am Ufer ein Schwarm Möwen auf. Der Grund dafür wird erst allmählich enthüllt: Durchs Uferschilf schleicht ein Tiger heran, der am Strand seine Freiheit genießt, einem Algenknäuel hinterherjagt, sich schließlich auf einem Wäschebündel niederlässt - Theklas vor dem Baden abgelegter Kleidung.
Was dann kommt, "jene Begebenheit, / bei der sich zwei zu einem jähen Feld / aus Glast und Glanz und Jetzt zusammenfanden", steht im Zentrum von Marion Poschmanns Buch "Die Winterschwimmerin", das die Autorin mit der einleuchtenden Gattungsbezeichnung "Verslegende" versehen hat. Neun Kapitel, gehalten in formal sehr unterschiedlichen Versgruppen, erzählen eine Geschichte mit legendenhaften Zügen, die im Abschnitt "Dem Tiger begegnen" am deutlichsten werden, etwa wenn Thekla aus dem Wasser steigt und dem Strand entgegen läuft: "Im Sonnenglast / bereits umrahmt von ein, zwei Gloriolen, / und somit aufgereiht / in einer Linie mit den ganz Großen, / in eine Kette mit den Heiligen gefasst, / oder ein Scheit, / bereit, / zu jeder Zeit / einfach aus sich heraus zu lodern."
Der Rückgriff auf Attribute der Heiligenlegende liegt nahe, denn Poschmann nennt als eine wesentliche Anregung für ihren Text eine apokryphe Schrift aus dem Umfeld des Neuen Testaments. In den "Akten des Paulus und der Thekla" wird erzählt, wie der Missionar Christi auch in die anatolische Stadt Iconium kommt, das heutige Konya, wo ihm die junge Thekla zuhört und zur Anhängerin der neuen Religion wird. Sie besucht Paulus im Gefängnis, wird schließlich selbst als Christin angeklagt und den wilden Tieren vorgeworfen, die sie aber verschonen und in ihrer Gegenwart überhaupt erstaunlich friedlich sind. Es gibt aber noch eine zweite literarische Quelle, die Poschmann zitiert: Goethes "Novelle", die aus dem Plan eines Versepos entstand und von der Tötung eines aus einer Menagerie entsprungenen Tigers erzählt. Ein ebenfalls freigekommener Löwe dagegen, der in derselben Gefahr schwebt, wird von einem Knaben besänftigt, durch Flötenspiel und beruhigende Verse, bis er sich wieder in seinen Käfig führen lässt.
All das kommt in Poschmanns Buch zusammen, inhaltlich und formal, ein schwaches Echo aus Konya, der Hochburg des auf Musik gebauten Sufismus, gerät ebenfalls über die Theklageschichte in das Werk. Doch die Begegnung zwischen der Badenden und dem Tier weist noch darüber hinaus: "Sie liegt beim Tiger, und die Welt steht still", heißt es, und: "Der Tiger rührt sich nicht; es könnte glücken, / den Kosmos aus verstreuten Einzelstücken / für einen Augenblick ins Gleichgewicht zu rücken."
Wer heute reimt, bewegt sich auf einem schmalen Grat, jederzeit vom Absturz in die Gefilde des trivialen Klangs bedroht, und das umso mehr, je regelmäßiger das Versmaß fällt, je gleichförmiger das Reimschema. Es ist mutig, sich dem Zwang der gebundenen Form auszusetzen, dem Verdacht, ein bestimmtes Wort stehe nur deshalb an seiner Stelle, weil es der Reim verlange.
Auch Poschmann ist vor einem solchen Verdacht nicht gefeit, bisweilen scheint es sogar, als böte sie ihm absichtlich die Stirn: "Der Tiger hat die Pfoten eingerollt / und unters Kinn gebettet. Thekla zollt / dem Kinn Respekt, den Lefzen und dem Rachen, / sie reizt ihn nicht. Der Tiger ist ihr hold" - das wirkt gesucht, ein bisschen gespreizt, wer spricht noch davon, jemandem Respekt zu zollen oder jemandem "hold" zu sein? Dass umgekehrt dieser Moment, dieser Nachhall einer Formensprache tatsächlich genau diese Worte motiviert, dass man erstaunt feststellt, solche Worte zunächst als Hemmschuh, dann als passend und schließlich als beides zugleich zu empfinden, macht den Zauber von Poschmanns Dichtung aus.
Um dieses Kapitel, das weiter von der durch die erregte Außenwelt gestörten Idylle handelt und davon, wie Thekla den Tiger schließlich wieder zu seinem Käfig führt und so den Mord in der "Novelle" aufhebt, gruppieren sich andere, die von Thekla, der titelgebenden "Winterschwimmerin", erzählen, von der Naturerfahrung im eiskalten Wasser, das mit dem Himmel korrespondiert, und von dem Einfluss, den eine gewisse Paula, die von Wohnung zu Wohnung zieht, aber nicht als "obdachlos" gelten will, auf Thekla ausübt.
In ihrer Form sind die Verse vor und nach dem Zentrum dieses Buchs ausdrücklich freier, der Reim wird spärlicher, allein die Varianz der Rhythmen bleibt. Dabei gewinnt das Buch, wenn man es laut liest; das bisweilen raffinierte, oft aus dem Inhalt erwachsende Beschleunigen und Stocken der Verse unterstreicht den souveränen Zugriff Poschmanns auf ihren Stoff, und auch der Fokus auf Wärme und Kälte und das Zusammentreffen ihrer Sphären im Eisbad machen aus dem schmalen, stillen Band eine beglückend aufregende Lektüre. TILMAN SPRECKELSEN
Marion Poschmann: "Die Winterschwimmerin". Eine Verslegende.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 80 S., geb.
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