Besprechung vom 25.04.2021
Der Ausbruch und die Falle
Judith Hermanns "Daheim" erzählt von einer Frau auf der Suche nach einem Ort in einer vertrocknenden Welt: Ein Klimaroman?
In einem Jahr, in dem es so wenig geregnet hat wie seit einem Menschenleben nicht mehr, spielt diese Geschichte. Also: irgendwann jetzt. Sie spielt am Meer. Und erzählt wird sie von einer Frau, die ihren Ort in der Welt neu bestimmen will. Die Tochter der Frau ist erwachsen und ausgezogen, die Frau hat sich von ihrem Mann getrennt und ist jetzt auf dem Dorf an der Küste gelandet. Dass es im Osten Deutschlands liegen könnte, dass es sich also um die Ostsee handeln muss, darauf deuten Details hin: etwa, dass die Erzählerin davon spricht, dass sie früher in einer Einraumwohnung gelebt und "im Westen" gearbeitet hat, lange bevor sie an die Küste zu ihrem Bruder zog. Dieser Begriff, Einraumwohnung, ist im Osten Deutschlands gebräuchlicher als im Westen. Letztlich ist es aber zweitrangig, wo genau dieser Ort liegt: Er ist weit weg von der Stadt, in einer Landschaft, wohin die Leute zum Ausspannen kommen und wo die Einheimischen ihr Geschirr mit Goldrand von Hand abspülen, damit es noch eine weitere Generation hält, und noch eine.
"Daheim" heißt der neue Roman von Judith Hermann, und er hat alles, was die Geschichten der Berliner Schriftstellerin ausgemacht haben, seit sie vor über zwanzig Jahren mit den Erzählungen aus "Sommerhaus, später" berühmt wurde. Da ist dieser Sound, der nur wirkt, als sei er ungefähr und schwebend, der aber in Wahrheit das Ergebnis exakter Prosa ist: Kein Wort zu viel. Ohne Umschweife, direkte Wege. Und da sind diese Figuren, die wie nicht richtig ausgemalt wirken und die auch sich selbst im Verdacht haben, nicht richtig ausgemalt zu sein. Sondern irgendwie haltlos durch eine Welt zu driften, die ihnen nicht gehört, die sie nur anschauen, melancholische Mängelwesen, zur Untermiete im eigenen Leben.
Auch die Erzählerin dieses neuen Romans, die namenlos bleibt, ist so eine Figur. Vor dreißig Jahren wäre sie fast einmal aus ihrer provisorischen Existenz - einer Einraumwohnung im Westen mit Blick auf eine Tankstelle, einem Job in einer Zigarettenfabrik, in der alle "Mahlzeit" sagen, nur sie nicht - ausgebrochen, um mit einem Zauberer und dessen Frau auf Kreuzfahrt nach Singapur zu gehen. Sie sollte sich als Assistentin auf der Bühne in einer Kiste zersägen lassen. Und hat das Angebot abgelehnt. Als die Frau dann dreißig Jahre später eine Marderfalle in ihrem leeren Haus in der leeren Küstenlandschaft aufstellt, erinnert sie sich wieder an diese Episode. Wie der Zauberer sie in der Schlange an der Tankstelle anspricht. Sie erst zögert, ihn doch dann zu Hause besucht und testweise in die Trickkiste steigt. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wäre sie mit aufs Schiff nach Singapur gegangen. Vielleicht wäre das die Freiheit gewesen, nie mehr Einraumwohnung, nie mehr Zigarettenfabrik. Oder eine Falle. Vielleicht aber stimmen auch ihre Erinnerungen daran nicht.
Und man könnte das, was diese Frau erzählt, was "Daheim" erzählt, nominiert für den Leipziger Buchpreis 2021, für stille Introspektion über Einsamkeit und Resilienz halten. Die Geschichte einer Frau Ende vierzig, die von ihrem Mann getrennt lebt, seit die gemeinsame Tochter ausgezogen ist, und die nun in einem leeren Haus an der Küste wohnt, im Gasthaus ihres Bruders kellnert und zögerlich eine Beziehung zu einem Bauern beginnt. Das ist die Konstellation dieses Romans, und sie könnte einem, weil sie so konventionell ist und die Poesie des Zauberers doch eher schmerzt, auch egal sein: Eine Frau schaut zurück auf ihr Leben, auf die große Unverbundenheit der Zufälle, die so ein Leben ergibt, wer liebt wen, wer bleibt, wer geht, was tut weh und ab wann nicht mehr: "Wir sind Trabanten", denkt sie einmal, "wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene." Ein anderes Mal hält sie ihr Haus für eine Raumstation und die Nacht vor ihrer Tür für das Weltall. "Wir sind zufällig zusammen alleine auf einem fremden Planeten", sagt sie über Arild, den Bauern. Planeten, Sonnen, Trabanten, weiter weg kann der Blick eigentlich nicht gehen.
In Wahrheit richtet die Frau ihn immer nach innen. So erzählt sie ihre Geschichte, wie sie und Arild ohne viele Worte ein Paar werden, wie ihr Bruder an seiner viel, viel jüngeren Freundin Nike verzweifelt, die ein fürchterliches Trauma in sich trägt, wie Arilds Schwester Mimi als Mittlerin zwischen dieser Zufallsgemeinschaft wirkt, in einem Dorf an der Küste, in einem flachen Land, "alles, was kommt oder geht, tritt deutlich zu Tage".
Aber was auch immer hier deutlich zutage tritt, und so bekannt einem Judith Hermanns Roman über die zweite Hälfte eines Lebens vorkommt, dessen erste Hälfte seine Versprechen und Wünsche nicht einlöste, weil es vielleicht gar keine gab: "Daheim" erzählt noch eine andere Geschichte. An den Rändern der Wahrnehmung passieren ständig beunruhigende Dinge. Sie entgehen der Erzählerin zwar nicht, sie erwähnt sie auch, sonst würde man davon ja nicht lesen, aber sie interessiert sich trotzdem nicht genug dafür. Wie nebenher erzählt der Roman deshalb von einem gewaltigen Konflikt, der nur noch gewaltiger werden wird: zwischen den Menschen und der Umwelt, in der sie leben. Man könnte sagen, dass "Daheim" ein Roman über den Klimawandel ist und über Menschen, die es gewohnt sind, die Welt, die sie umgibt, als Flächen für die Projektion ihrer Melancholien und Bedürfnisse zu halten. Der Baum, das Meer, die Sonne über dem Feld: Sie alle haben es immer ausgehalten, dass Menschen sie für symbolisch gehalten haben. Sie halten das auch jetzt noch aus, nur halten die Menschen diese Umwelt bald nicht mehr aus, weil sie sich verändert.
Denn es regnet nicht mehr. Einmal steigt die Erzählerin zu ihrem Bauern Arild auf den Trecker, es ist Ende August. "Der Pflug quälte sich durch die staubtrockene Erde, hinter uns steigt eine rauchige Wolke auf, die die Sonne verdüstert." In ihrem Blick werden diese Felder immer noch irgendwie zu Seelenlandschaften, die in ihrer Unbestimmtheit und Teilnahmslosigkeit der Unbestimmtheit und Teilnahmslosigkeit ihres eigenen Lebens eine Gestalt geben. Die Frau sieht genauso auf die tausend Schweine, die Arild trostlos in einem finsteren Stall hält. Aber auch dieser Zustand, die Härte einer falschen Notwendigkeit sozusagen, ist für sie vor allem Ausdruck von Arilds Eigensinn, der über den Tag hinaus seine Berechtigung zu haben scheint: Arild pflügt Land, das seit Generationen anderen gehört. Er hält Schweine ohne jedes Mitleid, er ist in einer anderen Zeit zu Hause, würde Ernst Bloch sagen, seine Uhr geht anders als ihre. Einmal fragt sie ihn, ob er jemals schwimmen geht, Schwimmen ist eine große Sache in ihrem Leben. "Er sagt, hier oder was. Im Meer oder was. Nein. Nie. Käme ich gar nicht drauf."
Und dann fragt sie ihn, ob er je woanders gelebt habe. "Arild schüttelt entschieden den Kopf, öffnet die rechte Hand mit einer abschließenden Geste. Er sagt, nie. Nie weggegangen, keine Reise gemacht, nie woanders gewesen. Wüsste auch nicht, wozu." Bis eben war sie mit dem Vater ihrer Tochter zusammen gewesen, mit dem sie Erinnerungen verglich, der kaputte Dinge gesammelt hat, bis die Wohnung nicht mehr bewohnbar war. Jetzt kommt sie mit Arild zusammen, dessen karge Entschiedenheit sie zwar traurig macht, weil er ihr ein feierliches Abendessen aus schlimmster Tiefkühlware kocht, der sie aber vor allem reizt. Ein Mann, der sein Schicksal zu kennen scheint. Und der den Marder massakrieren würde, dem sie eine Falle in ihrem Haus gestellt hat. Falls es ein Marder ist.
Stoisch leben diese Menschen in einer ausgemergelten Umwelt weiter. Und sehen nur sich selbst in ihr. Und blenden aus, dass es so nicht mehr weitergehen kann, aber sie haben immer so gelebt. Am beklemmendsten wird diese doppelte Wahrnehmung der Dinge im Verhältnis der Erzählerin zu ihrer Tochter. Ann ist mit einer Gruppe Gleichaltriger auf einem Segelboot unterwegs und schickt ihrer Mutter Koordinaten. Wenn sie skypen, fragt die Mutter nach gemeinsamen Erinnerungen, nach früher, nicht danach, wohin die Tochter aufbricht. Es könnte sein, und Judith Hermann deutet das nur an, dass es sich bei dieser Gruppe um Aktivisten handelt, sie sind jedenfalls mit einem Schiff zu den Rändern der Welt unterwegs und verraten nicht, was sie tun. Die Mutter fragt auch nicht. Sie fragt nach gestern. Und hofft, dass ihre Tochter morgen nach Hause kommt. Aber wo immer das auch ist: Dort regnet es nicht mehr.
TOBIAS RÜTHER.
Judith Hermann, "Daheim". Verlag S. Fischer, 192 Seiten
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