Letztes Jahr war Im Tal von Tommie Goerz eines meiner absoluten Lesehighlights, und so konnte ich sein neuestes Werk Im Schnee kaum erwarten.
Max ist über 80 Jahre alt und wohnt im (fiktiven) kleinen fränkischen Dorf Austhal. Es ist Winter, Max sieht aus dem Fenster und denkt über das Leben nach. Gerade haben die Totenglocken geläutet, sein bester Freund Schorsch, den er sein Leben lang wie einen Bruder kannte, ist gestorben. Max macht sich auf zur Totenwacht: Abends wachen die Männer, von Mitternacht bis in den Morgen die Frauen. Max bleibt die ganze Nacht, so wie er auch mit Schorsch viel Zeit mit den Frauen des Dorfes verbracht hat, ob beim Besenbinden, Fertigen von Kräutersträußen oder Backen. Tief in Gedanken hängt er seinen Erinnerungen nach an eine Zeit, die nur noch in den Gedanken der Alten lebendig ist, Erinnerungen, die mit ihnen aussterben werden, genauso wie das Dorfleben. Denn das Dorflädchen, den Bäcker, den Schuster, den Metzger und all die anderen alten Gewerke gibt es schon lange nicht mehr. Doch Tommie Goerz verklärt das Dorfleben nicht, die vermeintliche Idylle, die keine ist und nie eine war: "Dieses Dorf ist wie jedes Dorf. Da wohnen Leute, und da gibt es Misthaufen. Und je näher man herankommt, desto mehr stinkt es."
Wie schon bei "Im Tal" gelingt es Tommie Goerz auch hier auf unvergleichliche Weise, das Innenleben der Hauptfigur spürbar zu machen und in ihrer Tiefe auszuloten. Wieder ist die Hauptfigur ein stiller, wortkarger Mensch, der seine Gefühle nicht nach außen trägt, aber dennoch tief empfindet. Und in seinen Erinnerungen wird die alte Zeit wieder lebendig, so klar, dass man beim Lesen das Gefühl hat, unmittelbar dabei zu sein. Da ist die eingeschworene Dorfgemeinschaft der Alteingesessenen, die sich gegenseitig hilft. Wenn es etwas zu reparieren gibt, ist immer jemand zur Stelle, man feiert gemeinsam, trifft sich im Wirtshaus, kennt sich von Kindesbeinen an. Der Tee wird aus selbst gesammelten Wildkräutern bereitet, geschlachtet wird auf dem Hof, man ist autark als Gemeinschaft, aber auch hermetisch abgeschlossen gegen alles Neue. Die Zugezogenen aus dem Neubaugebiet gehören auch nach 40 Jahren nicht dazu, man bleibt beim Sie, lässt sie spüren, dass sie niemals dazugehören werden. Ganz zu schweigen gar von Geflüchteten da wird lieber über Nacht ein Haus abgerissen, als zu riskieren, dass dort Afrikaner einquartiert werden. Die gegenseitige soziale Kontrolle ist hoch, jeder sieht alles, doch alle sehen auch gerne weg, wenn etwas nicht gesehen werden soll. Misshandlungen, cholerische Patriarchen da mischt man sich lieber nicht ein. Und über Gefühle spricht man schon gar nicht. Beim Lesen bzw. Hören war die Enge für mich stellenweise geradezu körperlich spürbar.
Thomas Loibl liest Im Schnee wunderbar nachdenklich ein und verleiht diesem leisen Roman genau den richtigen Ton.
Dieses Buch ist ein echtes Juwel, das ich unbedingt weiterempfehlen möchte, ebenso wie "Im Tal". Sehr, sehr lesens- und hörenswert.