Schleichender Wahnsinn
Edith schreibt selten Tagebuch, wozu auch? Sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, auch wenn dieses nicht immer perfekt erscheint. Erst als ihr Mann sie wegen einer Jüngeren verlässt, überkommt die frustrierte Hausfrau die Sehnsucht nach einem besseren Leben. "Cliffie hat sein Examen bestanden", ist die erste Lüge, die sie ihrem Tagebuch anvertraut. Weitere folgen...
Edith und Brett sind ein ganz normales amerikanisches Ehepaar mit Haus und Katze und einem Sohn, der meistens zu Hause herumhängt aber keine größeren Probleme macht. Auch als Bretts pflegebedürftiger Onkel George einzieht, erträgt Edith die Mehrarbeit klaglos. Zehn Jahre später sieht die Situation anders aus. Brett hat seine jüngere Geliebte geheiratet, Cliffie ist ein arbeitsloser Alkoholiker und George lebt immer noch. Ediths einziger Ausweg ist ihr Tagebuch, in dem sie sich eine bessere Welt zurechtlegt.
Patricia Highsmith, Schöpferin des amoralischen Antihelden Ripley, gilt als eine der Meisterinnen des subtilen Horrors. So ist auch Ediths Tagebuch kein klassischer Kriminalroman sondern vielmehr eine subtile Studie über Verfall und Wahnsinn. Der Leser betrachtet die Welt durch Ediths Augen, die Augen einer normalen, pflichtbewussten Hausfrau und Teilzeitjournalistin, die sich von den zahlreichen Schicksalsschlägen, die sie treffen, nicht aus der Bahn werfen lässt. Gleich ihr bemerkt der Leser die Zeichen der Veränderung erst, als es längst zu spät ist. Edith erscheint so stark und patent, die anderen Menschen in ihrer Umgebung sind nur böswillige Schmarotzer.
Und doch spürt man von der ersten Seite an eine unterschwellige Bedrohung, die das Idyll zur Farce werden lässt. Insbesondere das Mutter-Sohn-Verhältnis ist von einem seltsamen Gefühl von Symbiose und Hass geprägt, das bis zum Ende Ediths Leben überschatten wird. Der Roman ist ein geschicktes Spiel mit den Erwartungen des Lesers, der jeden Augenblick mit einer gewaltsamen Entladung der Spannungen rechnet. Doch was Highsmith ihren Lesern letzten Endes zumutet, ist bösartiger und gleichzeitig trister als jede Gewalt.
© Birgit Erwin - www.literature.de - Das Literaturportal