Besprechung vom 21.11.2024
Feindliche Frauen
Cesare Paveses höchst artifizielles Tagebuch
Warum liest man die Tagebücher anderer? Womöglich der Mode wegen. Die Diarien Brigitte Reimanns und Victor Klemperers kamen kurz vor der Jahrtausendwende heraus und machten Furore. Bei Reimann könnte das Lob Marcel Reich-Ranickis den Ausschlag gegeben haben, bei Klemperer dürften sein Renommee als Romanist und seine Untersuchung zur Sprache des Dritten Reichs ("LTI") wohl eher von sekundärer Zugkraft gewesen sein - entscheidend war das Interesse an der dargestellten Zeit. Und man liest wohl auch der Neugier wegen. Thomas Mann befriedigt sie mit seinen Einträgen zum Erwerb wollenen Unterzeugs ebenso wie Max Frisch mit seinen Fragebögen, die eine Diskussion mit dem vermuteten Gegenüber eröffnen.
Cesare Pavese wird hierzulande als großer Name gehandelt, als Klassiker der italienischen Nachkriegsliteratur, die Kenntnis seiner Werke scheint dem Ruf aber hinterherzuhinken, was auch die Neugier an seiner Person im Zaum hält.
Bleibt die Zeit. Pavese, 1908 geboren, ist beim Marsch auf Rom vierzehn, alt genug also, um zu beobachten. Den Zweiten Weltkrieg erlebt er bewusst, ebenso die fünf Nachkriegsjahre bis zu seinem Suizid. Er bescheinigt sich indes 1940 ein "Desinteresse an der Politik", das nur während einer "totalitären Krise" weicht. Die "Intelligenzija" habe jedoch "nicht unter dem Faschismus gelitten; sie konnte sich austoben". Sein Tagebuch lässt denn auch keine Entwicklung erkennen, und er hält fest: In alten Gedichten "dieselben Worte wiederzufinden wie im vergangenen Monat, war niederschmetternd".
So kreist er um sich selbst, seine "Krücke des Selbstmords", (moral-)philosophische Fragen und sein eigenes Schaffen, sein Handwerk oder seine Poetologie. "Der Verstand, überhitzt von einem rationalen Spiel - nämlich dem Versuch, bestimmte, für wertvoll erachtete Ergebnisse zu erzielen -, überschreitet den abstrakten, auf Konventionen beruhenden Wert dieser ,Geschmacksrichtungen' und schafft hingerissen neue Gebäude. Ohne es zu wissen; und das ist logisch, wenn man bedenkt, dass das Geheimnis eines künstlerischen Gebildes dem, der es schafft, entgeht, bis er ihm, sich darüber klar werdend, sein Interesse entzieht."
Das "Handwerk des Lebens" als "Kunstwerk des Schwebens", abstrakt und weit abgehoben, schlicht nur in Aphorismen - "Das Leben ohne Rauch ist wie der Rauch ohne den Braten. Entweder Polizisten oder Verbrecher" -, brillant in den wenigen Passagen, in denen er als begeisterter Leser über Literatur nachdenkt, zum Beispiel über das Motiv der Stadt bei Balzac.
Pavese ist eine durchaus unzuverlässige und widersprüchliche Quelle. Mal preist er den Hedonismus, dann beteuert er, für jeden Genuss zu feige zu sein. Eben noch heißt es, das "größte Unglück ist die Einsamkeit", kurz darauf, den "größten Teil der Zeit geht es einem allein bestens". An seiner inneren Zerrissenheit gibt es keinen Zweifel, auch nicht an seinem Lebensekel - oder an seiner Sicht auf Frauen. Sie hätten "die Lüge direkt in ihren Geschlechtsteilen", sie seien "ein feindliches Volk, die Frauen, wie das deutsche Volk", bestenfalls sei eine Frau "das vernünftigste Tier". Möbius mit seinem Machwerk "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" ist ein Waisenknabe dagegen. Und doch schreibt Pavese gemeinsam mit Bianca Garufi einen sensiblen Roman über die Vergewaltigung einer Frau ("Großes Feuer").
Das führt zum ärgerlichsten Manko. Der Verlag dieser Neuausgabe rühmt sich, Namen dechiffriert zu haben, was belanglos ist, solange Anmerkungen weitgehend fehlen, denn Pavese nennt kaum Namen. Doch wenn er, der Wegbereiter für die amerikanische Literatur in Italien, (unsauber) Oscar Wilde ("The Ballad of Reading Gaol") zitiert, bleibt dies unaufgeschlüsselt. Für seitenlange französische Zitate nennt Pavese die Quelle - doch Marcel Raymonds "De Baudelaire au Surréalisme" muss im Original geschluckt werden. Der tabellarische Lebenslauf nimmt Paveses Eintritt in die Kommunistische Partei auf, nicht aber den in die faschistische. Ein Nachwort hätte diese Brüche in der Biographie benennen, hätte die ausgeblendete Zeit erhellen und darüber nachdenken können, wie wenig sich mitunter aus Persönlichkeit und Vita für ein Werk ableiten lässt. So wird nach der Lektüre des Tagebuchs der Griff zu einem literarischen Werk Paveses wohl nicht so schnell erfolgen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Cesare Pavese: "Das Handwerk des Lebens". Tagebuch 1935-1950.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Rotpunktverlag, Zürich 2024. 480 S., geb.
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