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Chor der Pilze

Roman

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220 Lesepunkte
Taschenbuch
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Natürlich spricht sie die neue Sprache, auch wenn keiner in der Familie das glaubt. Dabei könnte sie, wenn sie wollte, im Kopfstand Shakespeare zitieren, bis sie Nasenbluten bekommt, behauptet die alte Dame. Sie ist vor zwanzig Jahren aus Japan eingewandert, sitzt unverrückbar im Flur ihres kanadischen Hauses und beobachtet alles. Als sie ins Heim soll, macht sie sich mitten in einem Schneesturm davon, geht mit einem jungen Trucker, der sie aufliest, auf einen Roadtrip. Niemand weiß, wo sie sich aufhält - außer ihrer Enkelin Muriel, eine junge, schon in dem neuen Land geborene Frau, mit der die Großmutter in ständiger telepathischer Verbindung steht. Man erzählt sich drei Leben, ein altes, ein neues, ein mögliches, doppelt gespiegelt und in allen Facetten veränderlich. Ein erzählerisches Meisterstück über kulturelle Identität, Feminismus, Rassismus, und eine Hommage an die Heimat, die wir alle im Kopf haben: unsere Sprache. Mit Passagen von betörender Schönheit.

Produktdetails

Erscheinungsdatum
18. September 2020
Sprache
deutsch
Seitenanzahl
258
Autor/Autorin
Hiromi Goto
Übersetzung
Karen Gerwig
Verlag/Hersteller
Originaltitel
Originalsprache
englisch
Produktart
gebunden
Gewicht
382 g
Größe (L/B/H)
127/192/27 mm
Sonstiges
Mit Lesebändchen
ISBN
9783944751245

Portrait

Hiromi Goto

Hiromi Goto, geboren 1966 in Japan (Präfektur Chiba); kam 1969 mit der Familie nach Kanada. Für Chor der Pilze (OT: A Chorus of Mushrooms, The NeWest Press 1994 und 2014) erhielt sie 1995 den Commonwealth Writers Prize Best First Book (Canada and Caribbean Region), außerdem den Canada-Japan Book Award. Das Buch wurde ins Japanische, Koreanische, Italienische und Hebräische übersetzt. Goto schreibt auch Kinder- und Jugendbücher, zuletzt Darkest Light. Sie lebt in Vancouver.

Pressestimmen

Besprechung vom 08.10.2020

Zwischen fremder und entfremdeter Kultur
Die japanischstämmige Kanadierin Hiromi Goto erzählt vom Immigrantenschicksal in drei Generationen

"Ich werde mit meinen Hacken das schwarze Eis des Highways aufkratzen und in dieses ganze Land meinen Namen einschreiben." Die Familie der 1966 geborenen Hiromi Goto übersiedelte 1969 von Japan nach Kanada. Der magische Realismus ihrer Prosa wie in "The Kappa Child", "Hopeful Monsters" und ihrer Poesie wie etwa "The Body Politic" bietet Kreativstrategien des Überlebens zwischen Traum und Trauma, Rassismen und Klischees. Der Roman "Chor der Pilze" von 1994 ist neben Joy Kogawas "Obasan" zum Klassiker der japanisch-kanadischen Literatur geworden.

Experimentell beschwört Goto im Wechsel der Erzählstimmen von Enkelin und Großmutter den Alltag im Dreigenerationenhaushalt einer Einwandererfamilie herauf. Die Pilzfarm, die diese Familie in der Provinz Alberta betreibt, spielt auch auf die Geschichte der oft landwirtschaftlich tätigen und nach dem Angriff auf Pearl Harbour Zwangsarbeit auf Farmen leistenden Japaner in Nordamerika an. Die drei Generationen illustrieren verschiedene Weisen, mit dem Immigrantenlos umzugehen. Als die Familie einwanderte, beschlossen Keiko und ihr Mann, die Vertreter der mittleren Generation, in kultureller Aphasie, fortan kein Japanisch mehr zu sprechen. Ihre Tochter Muriel wurde monokulturell erzogen, während die ihre Shakespeare-Kenntnisse verbergende Oma Naoe weiterhin nur auf Japanisch monologisiert. Trotz des "Canadian Multiculturalism Acts" von 1988 erleben die Familienangehörigen einen nur oberflächlichen Schmelztiegel und bestenfalls gönnerische Toleranz. Das Lavieren zwischen fremder und entfremdeter Kultur wird zum Balanceakt.

Während Keiko für Naoe "Tochter von meinem Körper, aber nicht von meinem Mund" ist und ein "Ketchup-Gehirn" hat, werden für Muriel auch ohne Japanischkenntnisse die Gutenachtgeschichten der Oma ("Ich legte meinen Kopf in ihren knochigen Schoß und schluckte Töne") zur Heimatkunde: Prärieerzählungen werden mit Japans Schöpfungsmythen oder Märchen wie der feministischen Neufassung einer Däumlingsgeschichte überblendet.

Eines Tages packt die scheinbar senile Alte ihre sieben Sachen samt Kreditkarte der Tochter ein und begibt sich als Anhalterin auf einen kühnen Roadtrip, bei dem sie schlemmt, tanzt, einen jungen Trucker kennenund lieben lernt. Nach Naoes Verschwinden wird Keiko depressiv und bettlägerig, ihr arbeitswütiger Mann für Muriel zugänglicher. Das Mädchen bedauert seine "unterernährte Kultur", lernt japanisch zu sprechen und zu kochen und führt telepathische Dialoge mit der geliebten Oma. Die Mainstream-Vorstellung von Multikulti wird denn aufs Schönste in der "Gemüsepolitik" der "ReisnudelnTofuburgerExotischeGemüse-Abteilung bei Safeway" illustriert, in der eine Kundin Muriel über Unterschiede zwischen japanischen und "unseren" Auberginen ausfragt.

Im Beinahe-Happy-End finden Muriel und ihre Mutter erst in deren Rekonvaleszenz als "Larvenzeit" zueinander, indem Muriel ihre Mutter ausgerechnet mit japanischem Essen aufpäppelt. Derweil bereist die Großmutter ikonische westöstliche Orte: Sie lässt sich auf dem Highway "von Chinatowns Aromen locken", macht einen Zwischenstopp im mit japanischen Schriftzeichen übersäten Touristenort Banff, den sie als "übersetzte Version ihrer Heimat" betrachtet, um zuletzt bei der Calgary Stampede einen Rodeoritt als Persiflage westlich-maskuliner Ideale unter dem Alias "The Purple Mask" hinzulegen.

Auswege aus dem Einwandererdilemma bieten das Spiel mit Erwartungshaltungen und Sabotageakte der Ironie: In einer "Alice im Wunderland"-Schulaufführung soll Muriel als Hauptdarstellerin eine blonde Perücke tragen, bietet aber lieber einen Rollentausch zur Grinsekatze an - die habe ja schräg stehende Augen. Und auch kultureller Eklektizismus hilft: Einerseits wirft die Großmutter "westliche Küsse", andererseits liebt sie Chawan-mushi-Schweinerippchen. In Gotos listig verspiegelter Fremde kristallisiert sich ein "dritter Raum" der Diaspora heraus.

STEFFEN GNAM.

Hiromi Goto: "Chor der Pilze". Roman.

Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Cass Verlag, Bad Berka 2020. 264 S., geb.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

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LovelyBooks-BewertungVon CaBaPe am 17.10.2023
Zu Beginn sperrig, dann mitreißend
Von Irisblatt am 30.01.2022

Von der heilsamen Kraft des Erzählens und passender Speisen

Chor der Pilze hat mich auf ganz besondere Weise berührt. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, warum mir dieser Roman so gut gefallen hat. Er hat irgendetwas tief in mir zum Klingen gebracht und trotz schwergewichtiger Themen, die sich um Heimat, Identität, Migrationserfahrung, Ankommen und Aufbrechen sowie Rassismus drehen, hat der Text etwas Hoffnungsvolles und Warmes, besticht durch einen positiven Blick auf die Zukunft und zeichnet sich durch eine große Freude am Erzählen aus. Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen einer Familie: Tochter, Mutter und Großmutter, die gemeinsam mit dem Ehemann der Mutter vor mehr als zwanzig Jahren Japan verließen, nach Kanada auswanderten und dort eine Pilzfarm eröffneten. Die 85-jährige Großmutter Naoe verbringt die Tage auf einem Stuhl im Flur sitzend. Sie führt Selbstgespräche auf Japanisch und beobachtet, wer im Haus ein und aus geht. Ihre Tochter Keiko hat alles Japanische aus ihrem Leben verbannt (auch die Sprache) und versucht sich in allem der kanadischen Kultur anzupassen. Ihre Tochter Muriel wächst mit und in der kanadischen Kultur auf und wird trotzdem von ihrem Umfeld als Fremde wahrgenommen. Auch wenn sie kaum Japanisch spricht, hat sie ein inniges Verhältnis zu ihrer Großmutter, die ihr den japanischen Namen Murasaki gegeben hat. Eines Tages beschließt Naoe, ihren Stuhl im Flur zu verlassen und verschwindet spurlos in einer windigen, kalten Nacht. Während Naoe sich auf einen abenteuerlichen Roadtrip begibt und Keiko einen Zusammenbruch erlebt, wird Muriel klar, dass es eine große Leerstelle in ihrem Leben gibt, die unmittelbar mit ihrer japanischen Herkunft und ihrem fehlenden Bezug zu diesem Teil ihrer Identität zusammenhängt. Die Erzählweise ist sprunghaft und vielstimmig - im Wechsel werden die unterschiedlichen Perspektiven der Frauen eingenommen. Hinzu kommt die Erzählstimme der erwachsenen Murasaki (Muriel), die ihrem Freund zwischen Liebesspielen immer wieder eine Geschichte erzählt. Dabei wird sie auf magische Weise von ihrer verschwundenen Großmutter unterstützt, die ihrer Enkelin über die Distanz von Raum und Zeit hilft, die richtigen japanischen Wörter zu finden und die Geschichten ihrer Familie zu erzählen. Dann öffnete sich mein Mund von selbst und Wörter fielen heraus wie Schätze. Ich konnte nicht aufhören. Versuchte nicht, aufzuhören. Sie wirbelten, schwollen an und strudelten. Die Wörter fegten hinaus, wo der prärieformende Wind an ihnen zog und zerrte. Wie eine Samenkette erhoben sie sich. Streuten sich aus. Obchan und ich, unsere Stimmen klangen nach, wurden von hohlen Wänden zurückgeworfen und erstreckten sich mit Bändern aus Seidenfäden über das Land. (S. 69). Auch der Schreibstil variiert: ist mal einfach, dann sehr poetisch, manchmal auch derb und immer mal wieder mit japanischen Wörtern und Sätzen angereichert. Obwohl ich kein Japanisch spreche, es keine Übersetzung gibt, stört es weder den Lesefluss noch das Verständnis. Ganz im Gegenteil erhält der Roman dadurch einen ganz eigenen Rhythmus und Klang. Chor der Pilze spricht alle Sinne an, artikuliert Klänge, Gerüche, die Beschaffenheit von Lebensmitteln und ihren Geschmack, zeigt wie untrennbar ein Heimatgefühl damit verbunden ist. Essen und Erzählen erweisen sich in diesem Roman als heilsame Mittel der Erkenntnis und Selbstfindung; dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob die erzählten Geschichten wahr oder erfunden sind, erst während des Erzählens Form annehmen oder erlebte Erinnerung sind. Warm, verrückt, magisch und mit Tiefgang hat mich dieser Roman auf eine leise, sehr besondere Art berührt. Trotz der Vielstimmigkeit und der sprunghaften Erzählweise fügt sich alles ganz wunderbar zusammen; dieser mehrstimmige Chor hat einen Platz in meinem Herzen erobert - ich bin begeistert! Hiromi Gotos Chor der Pilze erschien bereits 1994. Der auf Englisch verfasste Roman wurde aber erst im Jahr 2000 ins Deutsche übersetzt.