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Dämmer und Aufruhr

Roman der frühen Jahre

(9 Bewertungen)15
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Buch (gebunden)
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Wer spricht, wenn einer von früher erzählt? Das fragt sich ein Autor in dem kleinen Hotel am Meer, in dem seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbracht hatten, die letzten vor ihrer Trennung. Er bewohnt das Zimmer, das sie bewohnt haben, und schreibt dort an der Geschichte seiner frühen Jahre, erzählt sie mit der Distanz des Schriftstellers als eine auch fremde Geschichte: Er greift zu den Mitteln und Freiheiten des Romans, um der Geschichte seiner Sexualität, die zugleich die Geschichte seines beginnenden Schreibens ist, einen Rahmen zu geben, eine Lebenslegende, die doch nah an der eigenen schmerzlichen Wahrheit bleibt, zu der auch die gescheiterte Ehe seiner Eltern gehört. Der Krieg hat die Eltern zusammengewürfelt, die junge Schauspielerin aus Wien und den talentierten Kriegsheimkehrer mit verlorenem Bein aus Hannover, der vor dem Nichts stand. Alles, was sie wollen, ist der Enge ihrer Zeit entfliehen, jeder auf seine Art, daran zerbricht ihre Ehe. Der kleine Sohn kommt ins Internat, ein Drama der Details nimmt seinen Lauf, jenseits aller verstehenden Sprache auf einer Klinge aus so beklemmender wie betörender Gewalt. In seinem großen autobiografischen Roman »Dämmer und Aufruhr« dringt Kirchhoff mit starken Erinnerungsbildern und großem erzählerischen Atem in die Tiefen des eigenen Abgrunds vor. Dabei erzählt er vom Eros einer Kindheit und Jugend, davon, wie Wörter zu Worten wurden und daraus schließlich das eigene Schreiben, der Weg hin zur Literatur.

»Wenige Tage vor seinem Geburtstag erscheint nun sein vielleicht wichtigstes Buch [...]Es enthält das gesamte Ausgangsmaterial eines altersweise gestimmten Formulierungskünstlers [...]. In seinen sorgfältig gemeißelten Sätzen über die Eltern, die ihre Kinder sich selbst überlassen haben und selber Verlorene waren, liegt etwas Feierliches, stolz Vergebliches und streng Überformuliertes, das an den längst verflogenen Suhrkamp-Weihrauch erinnert, ganz wunderbar ist und melancholisch macht.«
Iris Radisch, Die ZEIT

Produktdetails

Erscheinungsdatum
29. Juni 2018
Sprache
deutsch
Seitenanzahl
480
Autor/Autorin
Bodo Kirchhoff
Verlag/Hersteller
Produktart
gebunden
Gewicht
660 g
Größe (L/B/H)
221/139/43 mm
Sonstiges
Mit Lesebändchen
ISBN
9783627002534

Portrait

Bodo Kirchhoff

Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Nach seinen von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romanen »Die Liebe in groben Zügen« (FVA 2012) und »Verlangen und Melancholie« (FVA 2014) wurde Kirchhoff für seine Novelle »Widerfahrnis« (FVA 2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet und erhielt in China den Preis für das beste ausländische Buch des Jahres 2017. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.

Pressestimmen

Besprechung vom 05.07.2018

Von jetzt an seid ihr alle Hühner!

In seinem meisterlichen Roman "Dämmer und Aufruhr" geht Bodo Kirchhoff den eigenen Erinnerungen auf den Grund.

Ein Junge gräbt ein Loch. Nicht weil er, wie einst in "Tom Sawyer" beschrieben, ein altersgerechtes Verlangen danach hat, einen verborgenen Schatz zu finden. Der Zehnjährige gräbt sich im Schutz eines Schuppendachs tagelang zäh in den Boden hinein, "um darin zu verschwinden, und je tiefer es wird, je mehr ausgehobenes Erdreich sich daneben häuft, desto mehr ist es sein Loch". Als die Eltern - der Vater ist Unternehmer, die Mutter Schauspielerin und künftige Romanautorin - schließlich auf das Treiben des Jungen, der bereits im Grundwasser steht, aufmerksam werden, muss das Kind sein Loch wieder zuschütten, dafür verspricht man ihm zu Weihnachten ein Luftgewehr.

Die naheliegende Frage aber, warum er sich eigentlich vor allen Augen verbergen wollte, wird dem Jungen nicht gestellt. Und auch im weiteren Verlauf von Bodo Kirchhoffs autobiographisch grundiertem Roman "Dämmer und Aufruhr" ist bei allem, was dem Kind noch zustoßen wird, und bei allem, was es sich und anderen zufügt, das Ausbleiben solcher Fragen der Eltern ebenso symptomatisch wie erschreckend: Der Knabe, der junge Mann, der namenlose Protagonist also, der im Mittelpunkt dieses Romans steht, ist trotz seiner zum Teil intensiven und langandauernden Erlebnisse mit den Familienangehörigen zutiefst einsam. Und wenn er immer wieder betont, wie sehr er es selbst auf diese Isolation angelegt habe, wie er geradezu stolz auf den "Abstand, der sich zwischen ihm und der Welt errichten lässt", gewesen sei, dann glaubt man ihm das sogar. Und sucht zugleich umso aufmerksamer nach den Gründen, die der Erzähler offen und verdeckt anbietet, um diese Disposition zu erklären.

Drei Ebenen errichtet Bodo Kirchhoff in seinem Roman: Die eine ist der Geschichte des Heranwachsenden gewidmet und spielt zwischen 1952, als Protagonist wie Autor jeweils vier Jahre alt sind, und den späten Siebzigern. Die zweite gehört dem erinnernden Autor, der sich nach dem Tod beider Eltern zum Schreiben in ein Hotel an der ligurischen Küste zurückgezogen hat - es handelt sich offenbar um einen der letztvergangenen Sommer. Die dritte Ebene schließlich, zeitlich zwischen den beiden anderen liegend, schildert die Begegnungen zwischen Mutter und Sohn in einer betreuten Wohnanlage, in der die hochbetagte Mutter ihre letzten Jahre verbringt - eine Erzählstruktur, die sich als äußerst fruchtbar erweist, wenn sie sich anschickt, Schicht um Schicht freizulegen, um zu den längst vergangenen Geschehnissen zu gelangen, und die zugleich mit leichter Hand das Problematische dieses Verfahrens darstellt.

"Roman der frühen Jahre", der Untertitel des Buchs, scheint zunächst nur auf die erste Ebene zu passen, schließlich sind die beiden anderen ja ausdrücklich den späten Jahren des Protagonisten vorbehalten. Tatsächlich beginnt hier eine Geschichte, die ohne die vorausgegangenen Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Ereignisse also vor der Geburt des Erzählers, gar nicht verständlich wäre, jedenfalls nicht für ihn selbst. Er schildert die Eltern als Versehrte: den Vater, der als Soldat ein Bein eingebüßt hat, und die Mutter, die unter dem Verlust ihres Vaters ebenso wie unter dem Verlust des ersten Verlobten leidet - das Zusammentreffen seiner späteren Eltern ist dann auch aus dieser Perspektive einem Verkuppelungsmanöver geschuldet. Der vierjährige Sohn muss bald anstelle des selbst in der Urlaubszeit häufig abwesenden Vaters als "Sommerkavalier" der Mutter dienen, er ist das verhätschelte, den anderen Feriengästen präsentierte Kind, das in der Mittagszeit im Pensionszimmer den Körper der dösenden Mutter erforscht - ihm seien die Augen "früh geöffnet worden", sagt der altgewordene Erzähler über sein Verhältnis zur Mutter.

Andere Episoden aus dieser Zeit schildern die Großmutter und deren Freundinnen, die amüsiert, ja geradezu begeistert zusehen, wie sich der Junge vor ihnen präsentiert, wie er auf dem Flügel tanzt und von dort auf den Boden uriniert, und nicht selten lässt man das Kind an Bier oder Eierlikör nippen. Zugleich aber räumt man ihm dabei eine kindliche Gewalt über die applaudierenden Erwachsenen ein, die in einem Erinnerungsbild vom vierten Geburtstag kulminiert: Das Kind, das gerade einen Zauberkasten geschenkt bekommen hat, richtet nun im Gasthaus den Stab auf Mutter, Großmutter und Großtante und verwandelt die drei Frauen, "Abrakadabra, in Hennen: drei, die sich im Hennesein überbieten, gackern und flügelhaft die Arme bewegen, zum Erstaunen aller übrigen Gäste."

Die Eltern trennen sich auf ungeheuerliche Weise, indem sie ihren Kindern, dem Knaben und seiner vier Jahre jüngeren Schwester, die bereits vollzogene Scheidung verheimlichen und im Urlaub die heile Familie spielen. Der Junge wird ins Internat geschickt, wo ihn ein Lehrer missbraucht. Kirchhoff hat darüber mehrfach geschrieben und ähnliche Szenen auch in anderen literarischen Texten dargestellt; in diesem Roman aber ist das Verbrechen an dem Kind eingebettet in eine Reihe von Hinweisen auf die Einsamkeit des Jungen, auf seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und darauf, wie der Lehrer, der ihn gern "Schönerdu" nennt, das erkennt und ausnutzt - umgekehrt wird der Lehrer hartnäckig "Herr Gieser" genannt, denn an dem Machtgefälle ändert sich nichts.

Später wird sich der Junge selbst verletzen, er wird sich in eigenen Bildern und Texten mit Kindern auseinandersetzen, denen man Schlimmes angetan hat, und er wird Gleichaltrige verführen, mit Techniken, die er an sich selbst erfahren hat: "Erst gilt es, die Bedenken zu zerstreuen, dann ihn mittun zu lassen, und schließlich mit ihm zu tun, was man will, bis er selbst nichts anderes mehr will." Der Erzähler sammelt im Frankfurter Bahnhofsviertel erste heterosexuelle Erfahrungen, er lebt als Student im Ostend der Stadt und beschreibt fasziniert auch den Umbruch in Frankfurt, die massive Bautätigkeit, das Nebeneinander von Ruinen und Hochhäusern.

Man spürt, wie der altgewordene Erzähler, der "alles zu früh mit dem Körper Geschehene" reflektiert, um diese Erinnerungen ringt, ihnen misstraut und weitere Instanzen sucht, um sie zu bestätigen oder zu verwerfen. Wie aus diesem Ringen eine fortlaufende Geschichte wird, ist ein weiteres Thema des Romans. Zum Schreiben hat sich der nun knapp Siebzigjährige - Kirchhoff selbst wird diesen Geburtstag am morgigen Freitag feiern - in ein Hotel zurückgezogen, in dem seine Eltern kurz vor ihrer Trennung noch einmal einen gemeinsamen Urlaub verbrachten, in dem sie, wie der Erzähler glaubt, ein letztes Mal miteinander glücklich gewesen sind, und er wählt mit Bedacht das Zimmer, von dem er glaubt, dass es damals auch seine Eltern bewohnten. Mitgebracht hat er Bücher, die er mehr als fünfzig Jahre zuvor im Internat gelesen hat und die ihn nun an die Freundschaft zu einem Mitschüler erinnern, mit dem er nächtelang darüber diskutierte. Ebenfalls im Gepäck hat er Fotos aus seiner Kindheit, die er für sich und den Leser beschreibt, auslegt und neuerlich in Frage stellt, was ihre Bedeutung als Zeugnis für eine versunkene Existenz angeht, die - auch das ist Thema des Buchs - zugleich schmerzlich nachwirkt, bis in die Gegenwart des Erzählers. Er spricht distanziert von "dem Kind" oder "dem Jungen", dann wieder sagt er "ich", und die Beschreibung des Protagonisten von außen hat nichts mit dem gewachsenen zeitlichen Abstand zu tun: Auch in den Szenen, die ihn mit der greisenhaften Mutter zeigen, spricht er von dem "alten Sohn" an ihrer Seite.

Denn das ist das geheime Zentrum des Romans: die Zeit, die der längst als Schriftsteller etablierte Sohn mit der Mutter verbringt, rücksichtsvoll bis zur Verzweiflung über die immer noch sehr bestimmte Greisin, dabei immer die eigene Erinnerung mit ihrer abgleichend, im Versuch eines Gesprächs, das oft genug scheitert, oder später beim Lesen ihrer Aufzeichnungen. Wird sie gefragt, weicht sie gern aus, spricht er überdeutlich seine Kindheitsnöte an, geht sie nicht darauf ein oder allenfalls so, dass sich nichts weiter daraus entwickeln kann. So fragt sie einmal spät und pflichtschuldig, was denn das Schlimme an dieser Finnland-Reise gewesen sei, die er, wie er sagte, als Katastrophe empfunden hätte - und will die Antwort dann nicht hören.

Als der Sohn später die Hefte an sich nimmt, die sie in den Jahren ihrer Ehe mit dem Vater des Erzählers geführt hat, entdeckt er darin nichts als eine dürre, gestelzte Tagebuchstimme, eine "Bühnensprache", aber keine "eigene, begriffene Sprache" - und das von einer Frau, die als Schriftstellerin Evelyn Peters eine Vielzahl von Romanen verfasst hat, die der Sohn allerdings als mehr oder weniger unlesbar charakterisiert.

Kein Zufall, dass Kirchhoff diesen Roman erst nach dem Tod der Mutter schreiben konnte, so wie der Roman "Parlando", der von der vergeblichen Suche nach dem Vater handelt, erst einige Jahre nach dem Tod des Vaters erschienen war. Anders aber als in "Parlando" tritt hier ein Erzähler auf die Bühne, der seine Geschichte souverän, geschmeidig, untergründig bebend und von Trauer durchzogen präsentiert, gerade weil sie vom Bewusstsein getragen wird, dass alle Erinnerung erarbeitet werden will und dass sie trotz aller Anstrengung nur ein Konstrukt ist, das jederzeit relativiert werden kann und wohl auch sollte.

Eine der schönsten Stützen dieses Bewusstseins ist dann ein Plakat, das dem Erzähler geschenkt wird. Es zeigt ein glückliches Paar in der italienischen Urlaubslandschaft der Eltern, und obwohl die Abgebildeten - anders als die Gestalten auf den mitgeführten Fotos - mit Sicherheit nicht die Eltern sind, dient dieses Bild zum Ausgangspunkt einer wundervollen Phantasie über Vater und Mutter als glückliches Paar. Nicht die Erinnerung färbt hier das Bild ein, um es zu interpretieren, sondern das Bild, so scheint es, bringt umgekehrt eine Geschichte hervor, die das Erinnerte bereichert.

Worauf also lässt sich bauen, wenn man seine Geschichte ergründet, um sie zu erzählen? Der Zehnjährige, der das Loch im Scheunenboden wieder zuschütten muss, deponiert dort ein Marmeladenglas mit Erinnerungsstücken, darunter ein selbstgeschriebener Text. Knapp sechzig Jahre später wird er seiner Mutter erfolglos vermitteln, was das Schreiben für ihn sei: "wieder und wieder ein Versuch, aus der eigenen Scheiße Gold zu machen". Liest man diesen Roman, zweifellos Kirchhoffs besten, dann sieht es so aus, als ob der Junge beim tiefen, beharrlichen Graben doch noch einen Schatz gefunden hätte.

TILMAN SPRECKELSEN.

Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr". Roman der frühen Jahre.

Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

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LovelyBooks-BewertungVon Aus-Liebe-zum-Lesen am 22.01.2021
Autobiographischer Roman mit Längen
LovelyBooks-BewertungVon Buecherschmaus am 12.11.2018
¿Dämmer und Aufruhr¿ ¿ das ist ein Titel, der mich eigentlich wegen seiner pompösen Theatralik wenig anspricht. Genauso wenig wie andere Werke des Autors Bodo Kirchhoff, ¿Verlangen und Melancholie¿ etwa, oder ¿Eros und Asche¿. Auch sind Liebe und Eros, Begehren und Obsession, um die viele der Romane Kirchhoffs kreisen, nicht die von mir für eine Lektüre bevorzugt ausgewählten Themen, besonders wenn sie immer so etwas Schwüles, Pathetisches umweht. Also, ich gebe es zu, ich bin eigentlich keine Bodo Kirchhoff-Leserin. Auch die 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Novelle ¿Widerfahrnis¿ konnte mich für sich nicht einnehmen.Nun hatte mir Nadya Hartmann von der FVA, die ich im Rahmen der Aktion ¿Verlage besuchen¿ traf, das neue Buch von Kirchhoff, das damals im Entstehen war, aber so nahe gebracht, das ich es unbedingt lesen wollte. Danke, denn dieses Buch hat mich sehr begeistert.¿Roman der frühen Jahre¿ ¿ so der Untertitel. Ein autobiografischer ¿Coming of age-Roman also, der, wie könnte es anders sein, auch eine erotisch-sexuelle Erweckungsgeschichte ist. Aber zugleich so viel mehr.¿Aber erst dreieinhalb Jahre danach (auf dem Balkon mit Meerblick) gingen die Erinnerungen an diese Zeit in Gedanken über, auch den, dass seine Mutter nach dem Kuss in diese so lange Nacht gefallen ist, in einen sehnenden Zustand zwischen Schlafen und Wachen, nicht einmal mit dem befreienden Griff zum Telefon, in ein hoffnungsloses Um-sich-selbst-Kreisen, das vielleicht etwas ähnlich Erschöpfendes hatte (¿) wie die lange Nacht seiner Pubertät oder Begierde, als er der Junge zwischen Himmel und Erde auf dem Foto war und eigentlich ins Strahlende springen wollte, in eine Umarmung, und in keinen Moorsee, oder das Warme und Modrige des Sees der Ersatz war.¿Eine Passage am Ende des Romans, die Vieles der 460 Seiten dieses verblüffend offenen, mutig schonungslosen Buches erfasst.Das Foto des springenden Jungen zeigt das Cover des Buches und der Junge, der da springt, ist der halbwüchsige Bodo Kirchhoff, wie jeden Sommer zusammen mit seiner Mutter (und meist noch der Großmutter) in der Sommerfrische am Moorsee. Er sucht das ¿Strahlende¿, die ¿Umarmung¿, kurz das Glück. Denn dieser Junge ist zutiefst einsam. Trotz der zeitweise innigen, vielleicht zu innigen Beziehung zu seiner Mutter, der von Kirchhoff als strahlend-schön beschriebenen ehemaligen Schauspielerin und Autorin von zahlreichen Romanen mit Titeln wie ¿Ich bleib dir nah¿, ¿Zeit der Versuchung¿ oder ¿Die kleinen Wunder des Lebens¿, Evelyn Peters.Gleich zu Anfang wird diese Beziehung zur Mutter auch in ihrer starken Körperlichkeit geschildert. Nachmittage in der Sommerfrische verbringen die Beiden, der kleine Bodo ist gerade mal drei Jahre alt, nackt auf dem Bett. Der Kleine darf Mutters Körper ¿erkunden¿, bezeichnenderweise mit einem Bleistift, darf sie massieren, ist auch Jahre danach ihr sogenannter ¿Sommerkavalier¿. Ob und wieviel an kindlichem Missbrauch in solchen Szenen bereits steckt, bleibt im Ermessen des Lesers. Eine ganze Portion ödipalen Potentials steckt auf jeden Fall darin.¿Der Mutterleib ist vaterloses Gebiet¿.Dass solche Erinnerungen aber auch trügerisch sein können, das verschweigt Kirchhoff nicht. Sie können täuschen, stammen zudem meist, gerade in diesen frühkindlichen Phasen, aus zweiter Hand, aus Erzählungen anderer, von Fotografien, die für diese Buch von zentraler Bedeutung sind.¿Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt?¿Der hier von seiner Kindheit und Jugend erzählt, ist der Autor, der sich für einige spätsommerliche Wochen in ein Hotel an die italienische Riviera, nach Alassio, zurückgezogen hat. Dort, im Hotel Beau Séjour haben bereits seine Eltern einige vermutlich glückliche Tage in den späten 50er Jahren verbracht. Ein Ort, der diese Eltern und damit auch das eigene junge Ich näherbringen soll. Und so sitzt der Autor bei meist strahlend schönem Wetter auf dem kleinen Balkon und schreibt seine Erinnerungen.Erinnerungen an die Eltern, die beide unglücklich waren, in ihrem Leben, aber auch in ihrer Ehe, die überstürzt kurz nach dem Krieg geschlossen wurde. Beide waren sie Versehrte, der Vater, der im Krieg ein Bein verlor, die Mutter, die ihren Verlobten betrauert. Beide klammern sich aneinander, können aber ihre Sehnsüchte aneinander nicht stillen. Der Vater stets in Sorge um sein kleines Unternehmen, die Mutter in Erinnerung an die begonnene Schaupielkarriere und beseelt von ihrem Wunsch, Schriftstellerin zu werden, das graue Leben fort zu schreiben. Beide viel zu sehr mit sich beschäftigt, um dem Sohn und später auch der Tochter die Geborgenheit zu bieten, die Kinder benötigen. Es sind¿Eltern, die sich wieder und wieder verflüchtigt haben.¿Die seelische Not ihrer Kinder erkennen sie nicht. Einmal beginnt der Sohn, in einem Schuppen ein tiefes Loch zu graben, ein Loch, in dem er ¿verschwinden¿ könnte. Er gräbt, bis er auf Grundwasser stößt. Reaktion der Eltern: Bitte wieder zu graben, dann bekommst du ein Luftgewehr. Ein Luftgewehr, mit dem der Junge in der Folge zahlreiche Vögel ¿hinrichtet¿. Für mich war der Schmerz, der aus dem Verhalten des Jungen spricht, so offensichtlich und schwer erträglich. Oft springt die Großmutter ein, eine ehemalige Opernsängerin, vom Enkel ¿die Hüterin¿ genannt, und bietet den Kindern ein wenig Konstanz. Die Einsamkeit kann auch sie nicht bannen.Jahrelang halten die Eltern die Fassade einer intakten Familie aufrecht, auch als sie schon längst nicht mehr zusammen leben und die Kinder nacheinander auf ein Internat am Bodensee, nach Gaienhofen, abgeschoben werden. Das ¿Strahlende¿, die ¿Umarmung¿ hat der Sohn bei ihnen nicht gefunden, er sucht es aber weiterhin. Was er im Internat bekommt, ist neben der üblichen Härte, der ¿Heimdresche beispielsweise, der ¿Sprung in den modrigen Moorsee¿, in Form von sexuellem Verlangen und Obsession, ausgelöst durch den widerholten Missbrauch durch einen Sport- und Musiklehrer, den Kantor Gieser. Selbstverständlich fällt den Eltern nichts auf.Wie Bodo Kirchhoff diesen Missbrauch eines gerade mal Zwölfjährigen beschreibt, ist durchaus diskussionswürdig. Für den Jungen ist es nämlich eine Liebesgeschichte. Er fühlt sich als ¿Erwählter¿. Schmerzhaft wird das Ganze erst, als er auf einer Klassenfahrt nach Finnland entdeckt, nicht der einzige Junge zu sein, den der Kantor für seine Spielchen wählt. Kurz danach verschwindet der Kantor aus dem Internat. Diese ambivalent geschilderte Episode, die klar ein brutaler Missbrauch war, vom Opfer aber nicht als solcher empfunden wurde, ist sowohl mutig als auch problematisch. Für die meisten anderen Opfer solcher Missbräuche waren die Umstände wohl ganz andere. Für Kirchhoff war er, zusammen mit der äußerst ¿körperlichen¿ Beziehung zur Mutter wohl der Grundstein dafür, dass das Körperliche, das Sexuelle, der Eros zur Obsession wird, die sich in seinen Jugendjahren im Umherstreifen durchs Frankfurter Bahnhofsviertel, den zahlreichen Prostituiertenbesuchen und schließlich auch in seinem schriftstellerischen Werk niederschlug. Das Wecken eines Begehrens, das kaum gestillt werden kann und auch nicht zu glücklichen, lustvollen Momenten führt. Wie traurig seine Kinder- und Jugendjahre in dieser Konzentrierung und Besessenheit waren macht beklommen.¿(¿)während er, noch zittrig in den Beinen, schon nicht mehr der ist, der eben erst das Ersehnte getan hat (sechs, sieben Herzschläge lang höchstens ist er ganz der gewesen, der es tut ¿ und Jahrzehnte würde es dauern, bis sich ihm erschließt, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht). Er ist jetzt bloß noch der, an dem das alles hängen bleibt, wenn ihm keine Legende einfällt, keine schöne Geschichte vor der eigenen hässlichen.¿Das Buch erzählt auch von der Schriftsteller-Werdung Bodo Kirchhoffs.Eine dritte Ebene, die der Autor einzieht, sind Besuche bei der hochbetagten, gebrechlichen und pflegebedürftigen Mutter, die in einem Seniorenheim lebt. Es ist verblüffend, wie innig das Verhältnis des Sohnes zur Mutter noch war, dennoch immer mit Selbstvorwürfen versehen, sich nicht genug zu kümmern. Immer noch ist die Mutter sehr vereinnahmend, sehr dominant. Zwar sucht der Sohn Antworten auf viele Fragen aus der Kindheit, will sie aber nicht bedrängen, schon gar nicht, ihr Vorwürfe machen. Dreieinhalb Jahre vor den Tagen in Alassio, der Niederschrift der Erinnerungen, nimmt der Sohn Abschied von der Mutter, die 2014 mit 89 Jahren stirbt. In der Hotelbibliothek in Alassio findet er eines ihrer mit einer Widmung versehener Bücher, ¿Des Lebens Freude¿. Eine Freude, die sie sich wohl nur erschrieben hat und viel zu selten erlebt und wohl auch nicht an ihre Kinder hat weitergeben können.Mich hat dieser autobiografische Roman sehr berührt und mir den Autor Bodo Kirchhoff und sein Werk tatsächlich näher gebracht. Er erzählt stilistisch brillant und verschränkt die unterschiedlichen Zeitebenen mühelos und elegant. Das Arrangement des Erzählten ist wirklich meisterhaft. Immer wieder gleicht Kirchhoff Erinnertes, Informationen, Berichtetes miteinander ab, geht dabei auch in Distanz zu seinem einstigen Selbst. Das merkt man dann im Wechsel vom Ich zum Er. Bei aller Offenheit und Schonungslosigkeit seiner Selbsterforschung bleibt er immer dezent. Manchmal führt das dann zu so verschwurbelten Ausdrücken wie ¿das Geheimste¿, ¿das Pralle¿. Das ist etwas blumig-verklemmt und müsste nicht sein. Das ist aber auch mein einziger Einwand gegen dieses großartige Stück autobiografischer Literatur.