Besprechung vom 05.07.2018
Von jetzt an seid ihr alle Hühner!
In seinem meisterlichen Roman "Dämmer und Aufruhr" geht Bodo Kirchhoff den eigenen Erinnerungen auf den Grund.
Ein Junge gräbt ein Loch. Nicht weil er, wie einst in "Tom Sawyer" beschrieben, ein altersgerechtes Verlangen danach hat, einen verborgenen Schatz zu finden. Der Zehnjährige gräbt sich im Schutz eines Schuppendachs tagelang zäh in den Boden hinein, "um darin zu verschwinden, und je tiefer es wird, je mehr ausgehobenes Erdreich sich daneben häuft, desto mehr ist es sein Loch". Als die Eltern - der Vater ist Unternehmer, die Mutter Schauspielerin und künftige Romanautorin - schließlich auf das Treiben des Jungen, der bereits im Grundwasser steht, aufmerksam werden, muss das Kind sein Loch wieder zuschütten, dafür verspricht man ihm zu Weihnachten ein Luftgewehr.
Die naheliegende Frage aber, warum er sich eigentlich vor allen Augen verbergen wollte, wird dem Jungen nicht gestellt. Und auch im weiteren Verlauf von Bodo Kirchhoffs autobiographisch grundiertem Roman "Dämmer und Aufruhr" ist bei allem, was dem Kind noch zustoßen wird, und bei allem, was es sich und anderen zufügt, das Ausbleiben solcher Fragen der Eltern ebenso symptomatisch wie erschreckend: Der Knabe, der junge Mann, der namenlose Protagonist also, der im Mittelpunkt dieses Romans steht, ist trotz seiner zum Teil intensiven und langandauernden Erlebnisse mit den Familienangehörigen zutiefst einsam. Und wenn er immer wieder betont, wie sehr er es selbst auf diese Isolation angelegt habe, wie er geradezu stolz auf den "Abstand, der sich zwischen ihm und der Welt errichten lässt", gewesen sei, dann glaubt man ihm das sogar. Und sucht zugleich umso aufmerksamer nach den Gründen, die der Erzähler offen und verdeckt anbietet, um diese Disposition zu erklären.
Drei Ebenen errichtet Bodo Kirchhoff in seinem Roman: Die eine ist der Geschichte des Heranwachsenden gewidmet und spielt zwischen 1952, als Protagonist wie Autor jeweils vier Jahre alt sind, und den späten Siebzigern. Die zweite gehört dem erinnernden Autor, der sich nach dem Tod beider Eltern zum Schreiben in ein Hotel an der ligurischen Küste zurückgezogen hat - es handelt sich offenbar um einen der letztvergangenen Sommer. Die dritte Ebene schließlich, zeitlich zwischen den beiden anderen liegend, schildert die Begegnungen zwischen Mutter und Sohn in einer betreuten Wohnanlage, in der die hochbetagte Mutter ihre letzten Jahre verbringt - eine Erzählstruktur, die sich als äußerst fruchtbar erweist, wenn sie sich anschickt, Schicht um Schicht freizulegen, um zu den längst vergangenen Geschehnissen zu gelangen, und die zugleich mit leichter Hand das Problematische dieses Verfahrens darstellt.
"Roman der frühen Jahre", der Untertitel des Buchs, scheint zunächst nur auf die erste Ebene zu passen, schließlich sind die beiden anderen ja ausdrücklich den späten Jahren des Protagonisten vorbehalten. Tatsächlich beginnt hier eine Geschichte, die ohne die vorausgegangenen Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Ereignisse also vor der Geburt des Erzählers, gar nicht verständlich wäre, jedenfalls nicht für ihn selbst. Er schildert die Eltern als Versehrte: den Vater, der als Soldat ein Bein eingebüßt hat, und die Mutter, die unter dem Verlust ihres Vaters ebenso wie unter dem Verlust des ersten Verlobten leidet - das Zusammentreffen seiner späteren Eltern ist dann auch aus dieser Perspektive einem Verkuppelungsmanöver geschuldet. Der vierjährige Sohn muss bald anstelle des selbst in der Urlaubszeit häufig abwesenden Vaters als "Sommerkavalier" der Mutter dienen, er ist das verhätschelte, den anderen Feriengästen präsentierte Kind, das in der Mittagszeit im Pensionszimmer den Körper der dösenden Mutter erforscht - ihm seien die Augen "früh geöffnet worden", sagt der altgewordene Erzähler über sein Verhältnis zur Mutter.
Andere Episoden aus dieser Zeit schildern die Großmutter und deren Freundinnen, die amüsiert, ja geradezu begeistert zusehen, wie sich der Junge vor ihnen präsentiert, wie er auf dem Flügel tanzt und von dort auf den Boden uriniert, und nicht selten lässt man das Kind an Bier oder Eierlikör nippen. Zugleich aber räumt man ihm dabei eine kindliche Gewalt über die applaudierenden Erwachsenen ein, die in einem Erinnerungsbild vom vierten Geburtstag kulminiert: Das Kind, das gerade einen Zauberkasten geschenkt bekommen hat, richtet nun im Gasthaus den Stab auf Mutter, Großmutter und Großtante und verwandelt die drei Frauen, "Abrakadabra, in Hennen: drei, die sich im Hennesein überbieten, gackern und flügelhaft die Arme bewegen, zum Erstaunen aller übrigen Gäste."
Die Eltern trennen sich auf ungeheuerliche Weise, indem sie ihren Kindern, dem Knaben und seiner vier Jahre jüngeren Schwester, die bereits vollzogene Scheidung verheimlichen und im Urlaub die heile Familie spielen. Der Junge wird ins Internat geschickt, wo ihn ein Lehrer missbraucht. Kirchhoff hat darüber mehrfach geschrieben und ähnliche Szenen auch in anderen literarischen Texten dargestellt; in diesem Roman aber ist das Verbrechen an dem Kind eingebettet in eine Reihe von Hinweisen auf die Einsamkeit des Jungen, auf seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und darauf, wie der Lehrer, der ihn gern "Schönerdu" nennt, das erkennt und ausnutzt - umgekehrt wird der Lehrer hartnäckig "Herr Gieser" genannt, denn an dem Machtgefälle ändert sich nichts.
Später wird sich der Junge selbst verletzen, er wird sich in eigenen Bildern und Texten mit Kindern auseinandersetzen, denen man Schlimmes angetan hat, und er wird Gleichaltrige verführen, mit Techniken, die er an sich selbst erfahren hat: "Erst gilt es, die Bedenken zu zerstreuen, dann ihn mittun zu lassen, und schließlich mit ihm zu tun, was man will, bis er selbst nichts anderes mehr will." Der Erzähler sammelt im Frankfurter Bahnhofsviertel erste heterosexuelle Erfahrungen, er lebt als Student im Ostend der Stadt und beschreibt fasziniert auch den Umbruch in Frankfurt, die massive Bautätigkeit, das Nebeneinander von Ruinen und Hochhäusern.
Man spürt, wie der altgewordene Erzähler, der "alles zu früh mit dem Körper Geschehene" reflektiert, um diese Erinnerungen ringt, ihnen misstraut und weitere Instanzen sucht, um sie zu bestätigen oder zu verwerfen. Wie aus diesem Ringen eine fortlaufende Geschichte wird, ist ein weiteres Thema des Romans. Zum Schreiben hat sich der nun knapp Siebzigjährige - Kirchhoff selbst wird diesen Geburtstag am morgigen Freitag feiern - in ein Hotel zurückgezogen, in dem seine Eltern kurz vor ihrer Trennung noch einmal einen gemeinsamen Urlaub verbrachten, in dem sie, wie der Erzähler glaubt, ein letztes Mal miteinander glücklich gewesen sind, und er wählt mit Bedacht das Zimmer, von dem er glaubt, dass es damals auch seine Eltern bewohnten. Mitgebracht hat er Bücher, die er mehr als fünfzig Jahre zuvor im Internat gelesen hat und die ihn nun an die Freundschaft zu einem Mitschüler erinnern, mit dem er nächtelang darüber diskutierte. Ebenfalls im Gepäck hat er Fotos aus seiner Kindheit, die er für sich und den Leser beschreibt, auslegt und neuerlich in Frage stellt, was ihre Bedeutung als Zeugnis für eine versunkene Existenz angeht, die - auch das ist Thema des Buchs - zugleich schmerzlich nachwirkt, bis in die Gegenwart des Erzählers. Er spricht distanziert von "dem Kind" oder "dem Jungen", dann wieder sagt er "ich", und die Beschreibung des Protagonisten von außen hat nichts mit dem gewachsenen zeitlichen Abstand zu tun: Auch in den Szenen, die ihn mit der greisenhaften Mutter zeigen, spricht er von dem "alten Sohn" an ihrer Seite.
Denn das ist das geheime Zentrum des Romans: die Zeit, die der längst als Schriftsteller etablierte Sohn mit der Mutter verbringt, rücksichtsvoll bis zur Verzweiflung über die immer noch sehr bestimmte Greisin, dabei immer die eigene Erinnerung mit ihrer abgleichend, im Versuch eines Gesprächs, das oft genug scheitert, oder später beim Lesen ihrer Aufzeichnungen. Wird sie gefragt, weicht sie gern aus, spricht er überdeutlich seine Kindheitsnöte an, geht sie nicht darauf ein oder allenfalls so, dass sich nichts weiter daraus entwickeln kann. So fragt sie einmal spät und pflichtschuldig, was denn das Schlimme an dieser Finnland-Reise gewesen sei, die er, wie er sagte, als Katastrophe empfunden hätte - und will die Antwort dann nicht hören.
Als der Sohn später die Hefte an sich nimmt, die sie in den Jahren ihrer Ehe mit dem Vater des Erzählers geführt hat, entdeckt er darin nichts als eine dürre, gestelzte Tagebuchstimme, eine "Bühnensprache", aber keine "eigene, begriffene Sprache" - und das von einer Frau, die als Schriftstellerin Evelyn Peters eine Vielzahl von Romanen verfasst hat, die der Sohn allerdings als mehr oder weniger unlesbar charakterisiert.
Kein Zufall, dass Kirchhoff diesen Roman erst nach dem Tod der Mutter schreiben konnte, so wie der Roman "Parlando", der von der vergeblichen Suche nach dem Vater handelt, erst einige Jahre nach dem Tod des Vaters erschienen war. Anders aber als in "Parlando" tritt hier ein Erzähler auf die Bühne, der seine Geschichte souverän, geschmeidig, untergründig bebend und von Trauer durchzogen präsentiert, gerade weil sie vom Bewusstsein getragen wird, dass alle Erinnerung erarbeitet werden will und dass sie trotz aller Anstrengung nur ein Konstrukt ist, das jederzeit relativiert werden kann und wohl auch sollte.
Eine der schönsten Stützen dieses Bewusstseins ist dann ein Plakat, das dem Erzähler geschenkt wird. Es zeigt ein glückliches Paar in der italienischen Urlaubslandschaft der Eltern, und obwohl die Abgebildeten - anders als die Gestalten auf den mitgeführten Fotos - mit Sicherheit nicht die Eltern sind, dient dieses Bild zum Ausgangspunkt einer wundervollen Phantasie über Vater und Mutter als glückliches Paar. Nicht die Erinnerung färbt hier das Bild ein, um es zu interpretieren, sondern das Bild, so scheint es, bringt umgekehrt eine Geschichte hervor, die das Erinnerte bereichert.
Worauf also lässt sich bauen, wenn man seine Geschichte ergründet, um sie zu erzählen? Der Zehnjährige, der das Loch im Scheunenboden wieder zuschütten muss, deponiert dort ein Marmeladenglas mit Erinnerungsstücken, darunter ein selbstgeschriebener Text. Knapp sechzig Jahre später wird er seiner Mutter erfolglos vermitteln, was das Schreiben für ihn sei: "wieder und wieder ein Versuch, aus der eigenen Scheiße Gold zu machen". Liest man diesen Roman, zweifellos Kirchhoffs besten, dann sieht es so aus, als ob der Junge beim tiefen, beharrlichen Graben doch noch einen Schatz gefunden hätte.
TILMAN SPRECKELSEN.
Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr". Roman der frühen Jahre.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb.
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