Besprechung vom 01.04.2021
Bayerische Villen mit Aussicht
Man war auf dem Land, aber nicht aus der Welt. Nach der Aristokratie entdeckte im neunzehnten Jahrhundert der Geldadel des Königreichs Bayern den Starnberger See. Vor grandioser Alpenkulisse gab er die Bühne zur Inszenierung ihrer Sehnsüchte und Eitelkeiten: dem Kult naturromantischer Schwärmerei, dem Bedürfnis von Großbürgern nach gediegener Eleganz, dem Verlangen einer neureichen Hautevolee nach kultivierter Gesellschaft. Denn keine bäuerliche Landschaft breitete sich dort aus, vielmehr ein atemberaubendes Landschaftsgemälde, ein luftiges Kunstwerk, das die Erfüllung solcher Wünsche versprach. Natürlich zog das auch Künstler an. Zwar war die Künstlerdichte im bayerischen Oberland rekordverdächtig, doch den Starnberger See musste man sich schon damals leisten können. Bei der Verwirklichung der architektonischen Sommerträume setzte keine Bauordnung der Phantasie Grenzen. Trotzdem zeichnete sich so etwas wie das Ringen um einen bayerischen Nationalstil ab. In den malerischen Villen des Architekten Emanuel von Seidl und seines Bruders Gabriel schien er gefunden und wurde als "Seidlstil" berühmt. Aus diesem Villengebiet von europäischem Rang zeigt dieser Band mit vierundvierzig Residenzen einen breiten Querschnitt. Es handelt sich dabei weder um ein Architekturbuch noch um einen Reiseführer, darauf weist die Autorin im Vorwort hin. Ihr gehe es darum, "hinter Hecken und Fassaden zu blicken, die Türen der wunderschönen alten Häuser zu öffnen und zu erfahren, was ihren Bewohnern widerfahren ist". Entsprechend ausführlich, mitunter etwas weitschweifig, werden die Lebensläufe der Sommerfrischler erzählt. Darunter viele große: Unternehmerdynastien wie die Maffeis, die Millers, die Pschorrs, Künstler wie Lenbach, Kaulbach, Wedekind, natürlich die Manns. Bei einem derart rasanten Galopp durch die bayerische Kulturgeschichte muss naturgemäß etwas auf der Strecke bleiben. Dabei wird die Lektüre immer dann besonders reizvoll, wenn es um vergessene Namen geht - wenngleich darüber die Villen zuweilen völlig aus dem Blick geraten. Doch haben Gebäude ihren Bewohnern etwas zu sagen. Sie schaffen ein individuelles Klima und können im Zusammenklang mit der Umgebung zur Inspirationsquelle werden. Fotos im Buch lassen das auch vermuten. Offenbar erlaubten örtliche Gegebenheiten aber nicht immer Gesamtaufnahmen. Weil Teilansichten keinen adäquaten Eindruck vermitteln, hätte man sich als Ersatz mehr historische Abbildungen gewünscht. Trotzdem ist dies eines jener Coffee-Table-Books, mit denen man gern auf eine imaginäre Reise geht.
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"Sehnsucht Starnberger See. Villen und ihre berühmten Bewohner im Porträt" von Katja Sebald. Allitera Verlag, München 2021. 196 Seiten, zahlreiche Fotografien. Gebunden
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