Hamburger Ausgabe der Werke. Eine lesefreundliche Studienausgabe, alle Texte durchgesehen und mit den Originaltyposkripten und Erstdrucken verglichen. Jeder Band erhält einen ausführlichen Kommentar zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte.
Siegfried Lenz' berühmtester Roman, sein Opus magnum über Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche, seinen Aufsatz über die »Freuden der Pflicht« und seine Abrechnung mit dem Vater, dem Dorfpolizisten und dessen unrühmlicher Rolle in Nazideutschland gegenüber seinem Malerfreund Nansen. 1968 erschienen, ist die »Deutschstunde«, in mehr als 20 Sprachen übersetzt und über 2, 2 Millionen Mal verkauft, ein Meilenstein der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Besprechung vom 14.04.2019
"Deutschstunde", wiedergelesen
Was bedeuten die nationalsozialistischen Verstrickungen Emil Noldes für Siegfried Lenz' Roman, der den Maler zum Vorbild seiner zentralen Figur nahm?
Vor fünf Jahren hatten wir die ganze Diskussion schon mal. Da hing Emil Nolde auch schon im Kanzleramt - und wurde damals nicht abgehängt. Warum eigentlich nicht? Im Frankfurter Städel eröffnete im März 2014 eine Nolde-Retrospektive, die den Nationalsozialisten und Antisemiten Nolde zum Thema machte. "Was bleibt nun von seinem Werk?", wurde damals gefragt. Und mit Blick auf Siegfried Lenz' berühmten Roman "Deutschstunde", der nicht nur in Schulklassen, sondern auch sonst überall als ein Roman über Emil Nolde gelesen wurde: "Was passiert mit einem Roman, dem mehr als vierzig Jahre nach dem Erscheinen seine zentrale Figur abhandenkommt - und damit auch ein Gutteil an Glaubwürdigkeit?"
Es passierte so gut wie nichts. In der öffentlichen Wahrnehmung blieb der Mythos Nolde unangetastet. Und die "Deutschstunde" wurde weiter als ein Lehrstück gelesen, in dem der expressionistische Maler Max Ludwig Nansen, gegen den im Jahr 1943 ein Malverbot verhängt wird, als Emil-Nolde-Figur verstanden wurde: ein Künstler, der in Zeiten des Nationalsozialismus inneren Widerstand leistet und sich gegen Schikanen behauptet. Welche Konsequenzen also hatte der bekanntgewordene Antisemitismus Noldes für die Leser des Romans? "Ganz einfach: keine", konnte man 2014 in der "Süddeutschen Zeitung" lesen, die die Diskussion darüber, ob sich in der Wahrnehmung des Werks etwas ändern müsse, auch noch vor einem halben Jahr als "überflüssige Debatte" bezeichnete. Das Nolde-Problem wurde so erfolgreich wegmoderiert, dass jetzt, wo im Hamburger Bahnhof in Berlin die große Nolde-Ausstellung eröffnet worden ist, sich alle wieder neu erschrecken, ganz so, als hätten sie vom Nazitum und Judenhass des Malers noch nie gehört.
Um zu verstehen, wieso bei Nolde das Vergessen so ungeheuer gut funktioniert, muss man wissen, dass die Nolde-Stiftung Seebüll über viele Jahre hinweg erfolgreich versucht hat, das Erbe des Malers makellos zu halten. Aber es ist nicht nur das. Man kommt auch an Siegfried Lenz' "Deutschstunde" nicht vorbei. Denn der 1968 veröffentlichte Roman, in dem ein Junge namens Siggi Jepsen wegen einer Reihe von Bilddiebstählen in einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche einsitzt und eine Strafarbeit über die "Freuden der Pflicht" schreiben muss, ist bis heute so sehr mit dem Namen Nolde verbunden, dass die Fiktion größer ist als die Wirklichkeit. Sie ist sogar so groß, dass viele, wenn sie an den Maler Emil Nolde denken, eigentlich Siegfried Lenz' Figur Max Ludwig Nansen im Kopf haben. Auch das ist eine Wirkung von Literatur.
Dem Jungen im Roman fällt beim Begriff "Pflicht" vor allem sein Vater ein, der als nördlichster Polizeiposten Deutschlands den Befehl erhält, den Künstler Nansen zu überwachen. Diesem ist von den Nazis ein Malverbot auferlegt worden. Der Polizist droht ihm die Beschlagnahmung und Zerstörung seiner Bilder an. Siggi Jepsen beobachtet seinen Vater. Er liegt in seinem Kinderversteck - und schlägt sich auf die Seite des Malers. Beide nehmen die Sache so ernst, dass sie auch nach dem Krieg nicht damit aufhören können: Der Vater verfolgt den Maler auch ohne Nazis weiter. Und der Sohn, der immer noch glaubt, den Maler schützen zu müssen, stiehlt dessen Werke aus einer Ausstellung, wofür er zu einer Jugendstrafe verurteilt wird.
Im Mai 1969, also ein Jahr nach Erscheinen des Romans, schrieb Marcel Reich-Ranicki, damals Literaturkritiker bei der "Zeit", einen Brief an seinen Freund Lenz: "Ist es vielleicht möglich, dass der Erfolg der ,Deutschstunde' nicht nur mit den starken, sondern auch und vor allem mit den schwachen Seiten dieses Buchs zusammenhängt?" Lenz antwortete, er habe wirklich noch nie von einem Leser gehört, der sich ein Buch kaufe, um sich "an den Schwächen und Makeln seines Autors zu begeistern". Aber Reich-Ranicki insistierte: "Die Frage ist, ob Du nicht mit gewissen eher fragwürdigen Elementen in dem Roman einem eher fragwürdigen Publikumsgeschmack entgegenkommst."
Liest man das Buch jetzt wieder, meint man sofort zu verstehen, was Reich-Ranicki meinte. Denn die Figuren sind bei Lenz so klar umrissen, so überdeutlich gezeichnet (der Dorfpolizist als Pflichterfüller und Vertreter des Gesetzes, der Künstler ein Freigeist, der jugendliche Rebell als Retter eines widerständigen Vermächtnisses), dass sie zum Lehrstück besonders geeignet sein mögen, ihnen aber jede Ambivalenz fehlt. Siegfried Lenz selbst hielt den Maler in seinem Roman für "durchaus ambivalent". Das sagte er nach der Eröffnung der Nolde-Retrospektive 2014 bei einem Auftritt im Literaturarchiv Marbach, als er gefragt wurde, was er über den realen Nolde wusste. Der sei wohl "ein problematischer Mensch" gewesen und habe sich politisch "ein bisschen katastrophal" verhalten, sagte er. Mehr nicht.
Tatsächlich wusste er bereits bei der Arbeit an der "Deutschstunde" über die nationalsozialistischen Verstrickungen des Malers Bescheid, unter anderem durch eine Festrede, die der Rhetorikprofessor Walter Jens im August 1967 zum 100. Geburtstag Noldes in Seebüll gehalten und von dessen Idealen der "Reinrassigkeit" gesprochen hatte; von einem, der "die Zukunft der Kunst" mit "judenferner Kunst" gleichsetzte. Günter Berg hat dies in der Hamburger Ausgabe der Lenz-Werke zusammengefasst. In sein Buch nahm Lenz das nicht auf. Das musste er auch nicht. Er schrieb einen Roman. Der Maler darin hieß Nansen und nicht Nolde (der als Hans Emil Hansen geboren wurde). Das Problematische und Katastrophale seines realen Modells, die Ambivalenzen, interessierten ihn für seine "Deutschstunde" offenbar nicht. Aber es hätte uns interessieren müssen. Dass Angela Merkel das Nolde-Bild im Kanzleramt nun abgehängt hat, ist eine gute Entscheidung auch deshalb, weil damit die Routine unterbrochen ist, an die märchenhaft klar umrissenen Charaktere der "Deutschstunde" zu glauben. Der Roman bleibt der Roman. Man kann ihn finden, wie man will. Nolde aber ist nun nicht mehr der Maler aus der "Deutschstunde". Er ist der, der im Kanzleramt abgehängt wurde, und es gilt, sich zu erinnern, warum.
JULIA ENCKE
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.