Seit der Antike haben sich Philosophen sehr aufmerksam und eindringlich mit memoria und reminiscentia, mit Gedächtnis und Erinnerung beschäftigt. Erst in der Neuzeit und insbesondere in der Moderne ist das Thema Erinnerung zu einem Problemtitel geraten, und zwar wegen der Bilder, in denen unser Erinnern sich veranschaulicht. War es doch Immanuel Kant, der die fatale Behauptung aufgestellt hat: wenn man den Begriff nicht von Bildern ablösen kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können. Seitdem fällt es den Philosophen schwer, in und mit Bildern zu denken, und manche, zum Beispiel Edmund Husserl, wollten darum die Bilder aus der Erinnerung vertreiben. Das aber hat bedenkliche Folgen für unser Verständnis von Bewußtsein, Subjektivität und Personalität. Die Rede von der Erinnerungsvergessenheit der Philosophie ist jedenfalls nicht unbegründet - deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Und ich habe mich bemüht, es so zu schreiben, daß es auch für denjenigen noch lesbar bleibt, der im Fach Philosophie nicht zuhause ist; denn wer ein bewußtes Leben führen will, muß das im flüchtigen Strom seiner Erinnerungsbilder tun.
Stephan Otto unternimmt eine Analyse der Theoriekontexte, in denen die Frage nach Gedächtnis und Erinnerung entweder beantwortet werden kann oder aus denen sie verschwindet und warum sie aus ihnen verschwindet. Um diese Kontexte vorzustellen, konfrontiert er Vico mit Hegel, Aristoteles mit Plotin und diesen wiederum mit Augustinus, stellt er die Transzendentalphilosophie Kants der Phänomenologie Husserls, Schelers und Ricoeurs gegenüber, untersucht die Wittgenstein sche Philosophie der normalen Sprache, den französischen Neostrukturalismus und die deutschsprachige Theorie der Subjektivität im Hinblick auf ihr »Erinnerungsdefizit« und setzt sich mit der Neurowissenschaft, die am »Erinnerungsbewusstsein« an ihre Grenzen stößt, auseinander.