Besprechung vom 20.12.2022
"Wir und die"
Die deutsche Debatte über Flüchtlinge und die seltsame Parallele von Willkommenskultur und Brandanschlägen.
Günther Jauch war sichtlich überrumpelt an diesem Aprilsonntag vor sieben Jahren. In seiner ARD-Talkshow wollte er sich von dem Sea-Watch-Initiator Harald Höppner erklären lassen, was diesen dazu bewogen hatte, auf eigene Faust Menschen aus dem Mittelmeer zu retten. Doch Höppner hatte anderes im Sinn, wollte nicht reden, sondern schweigen. Der Aktivist forderte alle im Fernsehstudio auf, sich zu erheben und der Opfer der jüngsten Katastrophe zu gedenken: Hunderte Menschen waren gestorben, nachdem ihr Flüchtlingsboot vor Lampedusa gekentert war.
Ein Jahr später, im April 2016, starben wieder Hunderte beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Doch berichtet wurde weit weniger häufig: "Das erste Ereignis fand in über tausend Artikeln wochenlang Resonanz", schreibt Uwe Becker. "Im folgenden Jahr hingegen thematisierten nur noch rund hundert Artikel das ähnlich dramatische Ereignis." Eine Schweigeminute zur besten Sendezeit gab es ebenfalls nicht mehr. Diese Diskrepanz will der Sozialethiker Becker erklären.
Leisten soll das eine "Diskursanalyse". Nun ist der "Diskurs" eines jener Wörter, unter denen sich Verschiedenstes verstehen lässt. Becker widmet dann auch gleich zu Beginn seines Buches ein ganzes Kapitel "diskurstheoretischen Anmerkungen", die immerhin Klarheit zu schaffen versuchen - letztlich will Becker den Blick lenken, nicht nur auf das, was erzählt wird, sondern auch darauf, wie erzählt wird (und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Erzählungen nicht zwingend "pure Faktizität" abbilden, sondern selbst Handlungen sind, die vorhandene Diskurse aufgreifen, fortführen und damit auf die Faktizität einwirken). Soll heißen: Ob man einen Dienstleister, der staatlichen Regeln zum Trotz Menschen unter widrigen Bedingungen über eine Seegrenze hinweg in ein anderes Land zu bringen verspricht, als Helfer oder als moralisch zu verurteilenden (und juristisch zu verfolgenden) Schlepper beschreibt, hat Konsequenzen für die Erzählungen über Flucht und Flüchtende.
Die eigentliche Analyse über den deutschen Flüchtlingsdiskurs gerät dann detailliert. Becker bezieht 200 Texte ein, alle stammen aus der "Zeit" und von "Zeit Online". Das ist immer wieder lehrreich. Zum Beispiel erinnert er daran, dass "Flüchtlingskrise" zunächst als emphatischer Begriff gebraucht wurde, der das Leid von Tausenden benannte, die unter widrigen Bedingungen versuchten, nach Europa zu gelangen und dort bleiben zu können. Infolge rechter Ausschreitungen vor Flüchtlingsunterkünften und gegen sie und ihre Bewohner geriet die Vokabel aber rasch in einen anderen Kontext. Aber angesichts solcher Taten statt von einer Demokratie- oder Grundrechtekrise zu sprechen, hielten die Medien an dem Begriff der "Flüchtlingskrise" fest, der die Flüchtlinge sprachlich als Ursache der Krise markiert oder ein solches Verständnis zumindest nicht ausschließt.
Becker gelingt es immer wieder, verschiedene Artikel unter Oberbegriffen zu fassen, um damit eine Chronologie der Debatte über Flüchtlinge im Jahr 2015 zu schaffen. Zwar gab es schon im Frühjahr Warnungen, dass mit Flüchtlingen auch Terroristen nach Europa gelangen könnten. Aber es war auch häufig Thema, dass Flüchtlinge und andere Migranten helfen könnten, den demographischen Wandel auszugleichen. Solche "Nützlichkeitserwägungen" findet und kritisiert Becker immer wieder - er sieht sie als eine "fragwürdige Entleihung aus der Konsumwelt", wenn gefragt werde, wie viele Flüchtlinge sich Deutschland "leisten" könne. Nun ist in der Tat das Grundrecht auf Asyl nicht an finanzielle Etatposten geknüpft. Aber auch wenn man für die Aufnahme von vielen Menschen in Deutschland eintritt, ist es doch politisch redlich, zu erwähnen, welche Auswirkungen auf den Staatshaushalt das hat; man könnte ja sogar zum Ergebnis kommen, dass sich die Aufnahme auch für den Aufnehmenden "lohnt".
Eines der Rätsel der deutschen Flüchtlingsdebatte ist die Parallelität von Willkommenskultur und Brandanschlag. Becker bietet eine Erklärung dafür, wie beides strukturelle Ähnlichkeiten aufweist: Er sieht im Diskurs über verschiedene Aspekte der Flüchtlingsdebatte hinweg eine Teilung in "Wir und Die". Während das in Bezug auf Fremdenfeinde unmittelbar eingängig ist, scheint die Willkommenskultur ja gerade durch ihren inklusiven Anspruch die Differenz zwischen Wohnhaften und Angekommenen überwinden zu wollen. Aber hier sieht Becker eine diskursive Stolperfalle. Denn die "moralische Landnahme" der willkommen Heißenden gilt seiner Analyse nach weniger den Flüchtlingen und mehr der Konstitution des eigenen Selbstbildes - wir helfen den Fremden. Besonders stabil ist dieses Bild nicht, schon vor der Kölner Silvesternacht versandet der medial abgebildete Diskurs der Willkommenskultur. Zu Recht weist Becker darauf hin, dass jenseits der Zeitungstexte das Engagement von Ehrenamtlichen in Integrationskursen, Helferkreisen und als Spender aber weiter bestand und teilweise sogar zunahm. Das abzubilden gelang ihm zufolge zumindest der "Zeit" nicht.
Beckers Diskursanalyse gerinnt ohnehin immer wieder zur Medienkritik - sie sagt oft mehr über "Die Zeit" aus als über Flüchtlinge. Er beklagt zum Beispiel, dass Schlepper nur als Figur, als Gegner der "westlichen, "zivilisierten Welt" und nicht als "Subjekte ihrer Erzählperspektive" dargestellt werden. An solchen Stellen kratzt Becker an einem grundlegenden Problem des wahrheitsorientierten Darstellungsjournalismus. Sein Wesen ist es, über andere zu berichten. Sicher müssen diejenigen, die Gegenstand der Berichterstattung sind, zu Wort kommen (und mögen es Schlepper sein, auch wenn diese aufzusuchen und zum Reden zu bringen anspruchsvolle Recherchen verspricht) - aber zu verlangen, die Dargestellten sollten die Hoheit über ihre Darstellung haben, wäre die Aufgabe des Journalismus. LUKAS FUHR
Uwe Becker: Deutschland und seine Flüchtlinge. Das Wechselbad der Diskurse im langen Sommer der Flucht 2015.
transcript Verlag, Bielefeld 2022. 288 S.
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