Besprechung vom 07.01.2019
Das macht kein Tier
Würgegriff der Geschichte: Anne Goldmanns Frauen
Was nun eigentlich das größere Verbrechen ist, weiß am Ende niemand mehr, es sind einfach zu viele geschehen. "Ich kenne kein größeres Verbrechen", sagt einmal ein Mann und meint damit eine Frau, die nach der Geburt ihr Kind weggibt. "Wegwirft", so nennt er es, "das macht kein Tier." Aber da hat man längst genug gelesen, um zu wissen, dass es so einfach nicht ist. In ihrem vierten Roman entfaltet die 1961 geborene Anne Goldmann ein ganzes Spektrum an psychologischen und körperlichen Grausamkeiten, die vor allem Frauen widerfahren.
An den Endpunkten dieses Spektrums die beiden Protagonistinnen: Selma Sudic, eine ältere Frau, pflegebedürftig, die einst die Greuel der Jugoslawienkriege erlebte. Und Theres Rössler, Mittdreißigerin, eine privilegierte Mitteleuropäerin, die bei Kriegsberichten und Katastrophenmeldungen den Fernseher ausschaltet oder den Raum verlässt. Zunächst haben Frau Sudic und Theres nicht direkt miteinander zu tun - verbunden sind sie trotzdem. Durch die Figur der Ana, die bei beiden putzt. Zum anderen durch die Struktur des Romans.
Immer beginnen die Kapitel mit Jahreszahlen, 2018 meist, manchmal auch in den 1990ern, dann folgen kurze Unterkapitel, durch zwei senkrechte Striche voneinander abgetrennt, die weiter in die Vergangenheit springen oder hin und her, ein ständiger Szenenwechsel. Ohne darüber Worte zu verlieren entwirft Anne Goldmann auf diese Weise eine Gegenwart, die durchdrungen ist von der Vergangenheit, von einst getroffenen oder über einen verhängte Entscheidungen.
Von jener Entscheidung zum Beispiel, die einst Theres' Eltern über sie fällten: Dass sie ihren Sohn abgeben solle, mit dem sie im Teenageralter schwanger wurde. Nun meldet sich ebenjener Sohn bei ihr, will sie kennenlernen. Jan heißt er und erinnert an einen anderen österreichischen Roman aus diesem Jahr: an Raffael aus Mareike Fallwickls Debüt "Dunkelgrün Fast Schwarz". Ein junger Mann, gutaussehend und charmant, möglicherweise manipulativ. Vielleicht ein Opfer der Umstände, vielleicht auch einfach skrupellos. Beider wahre Motive bleiben lange Zeit im Ungefähren, nur ist Goldmann erfahrener darin, dieses Ungefähre wirkungsvoll für sich zu nutzen. Ihre Sprache ist einfach, aber präzise, beschreibt die Geschehnisse aus der Distanz.
Einmal besucht Theres ihre erzkonservativen, unterkühlten Eltern, die die Autorin nie beim Namen, sondern stets nur "die Mutter" und "der Vater" nennt. Die sie lediglich charakterisiert, indem sie regelrecht filmische Bilder heraufbeschwört. Das Wesen des Vaters etwa, eines ehrgeizig-verbohrten Lokalpolitikers, indem sie die Art, wie er ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte herunterschlingt, so genau beschreibt, dass man Theres' Übelkeit auch die eigene Kehle hochzukriechen glaubt. Nur gelegentlich gerinnt eines dieser Bilder zum Klischee, etwa wenn Goldmann die ohnehin schon offensichtlich dysfunktionale Familie zum Fotografen schickt. Alle sollen gedeckte Farben tragen, der Harmonie auf dem Gruppenbild wegen.
Theres' Geschichte gerät so zum Perpetuum mobile des Romans, ihre Taten ziehen Konsequenzen nach sich, gleichwohl sie selbst sich diese Macht nie zugesteht. Tochter von, Frau von, Mutter von - sie sieht sich als eine, die andere für sich entscheiden lässt. Bei Selma Sudic ist der Verlust der Selbstbestimmung handfesterer Natur: Ihre Gebrechen zwingen sie zu körperlicher Passivität. Erinnerungen an die Taten ihrer Vergangenheit drängen derweil beharrlich an die Oberfläche, doch Sudic versucht sie zu verdrängen, bloß nicht genau zu benennen. Jemand ist durch ihre Hand gestorben, immerhin so viel erfahren wir.
Spitzen sich in "Das größere Verbrechen" die Ereignisse zu, etwa wenn Anne Goldmann Episoden aus dem Krieg schildert, verknappen sich ihre Sätze. Ein Glück, denn nichts braucht es in solchen fiktionalen Annäherungen an historische Ereignisse weniger als sprachlichen Voyeurismus. Die Greuel beschränken sich auf Andeutungen, kurze Passagen, der Autorin geht es vielmehr um deren Nachhall, die bleibenden Erinnerungen, das Verarbeiten und Verdrängen, um das, was sich auf Überlebende und Hinterbliebene überträgt. Gibt sie doch einmal der physischen Gewalt Raum, hält sie eine feine Balance zwischen dem, was sie schreibt, und Details, die sie lieber verschweigt.
"Sie liegt auf dem Rücken. Fremde Augenpaare tauchen über ihr auf und verschwinden wieder", heißt es an einer Stelle, und man wähnt sich Zeugin einer Vergewaltigung, es wäre schließlich nicht das erste Mal. Erst später wird klar: Goldmann beschreibt eine natürliche Geburt. Da braucht man nicht mehr mit Humanismus zu kommen, da hat die Gewalt bereits alles durchdrungen, ist ein Teil der Natur und damit ein Teil von uns. Das macht kein Tier? Das ließe sich über die meisten der Verbrechen in diesem Roman sagen.
KATRIN DOERKSEN
Anne Goldmann:
"Das größere Verbrechen".
Argument Verlag,
Hamburg 2018.
240 S., br.
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