Die 1942 geborene Dominique Manotti ist die Grand Dame des Politthrillers. Die gelernte Historikerin veröffentlichte erst in relativ reifem Alter ihren ersten Kriminalroman. 1995 erschien Sombre Sentier (dt. Hartes Pflaster, 2004 bei Assoziation A). Seit 2010 veröffentlicht der traditionell linke Argument Verlag in seiner feministischen Krimireihe Ariadne alle ihre "Romans policiers". In diesem engagierten Verlag hat die engagierte Autorin Dominique Manotti ein passendes Zuhause gefunden, zuletzt mit Marseille73.Neben ihren "freien" Romanen begleiten zwei Protagonisten und zwei Serien die Autorin schon seit den Anfangstagen. Da ist einmal die wegen ihrer algerischen Abstammung und ihrem weiblichen Geschlecht vielfach im Polizeiapparat diskriminierte Ermittlerin Noria Ghozali, die im letzten Buch Manottis (Kesseltreiben) an den Machenschaften der Global Player scheiterte. Und da ist Theo Daquin, bisexueller Kommissar aus Paris, dem die Autorin seit ihrem Debüt drei Bücher widmete (u.a. Abpfiff). Beide ermitteln in Marseille.Bereits 2015 kehrte Dominique Manotti mit einem Buch zu Theo Daquin zurück, und zwar zu dessen Anfangszeiten als junger, aus der Metropole an die Mittelmeerküste versetzter Ermittler. Als eine Art Prequel zu ihren anderen Daquin-Romanen und als direkter zeitlicher Vorgänger von Marseille73 musste sich der junge Kommissar nicht nur in die dortigen Seilschaften, sondern auch in die undurchsichtige Welt des Erdölhandels hineinbegeben. Wie Marseille73 ließ Dominique Manotti auch Schwarzes Gold im Jahr 1973 spielen. Eine gesellschaftlich unruhige Zeit, aber auch eine Zeit der Freizügigkeit, der Daquin gerne frönt.Für Frankreich, besonders für den Süden und eben Marseille, war das Jahr 1973 ein schwieriges Jahr. Zwar war der Algerienkrieg bereits seit mehr als zehn Jahren beendet, seine Folgen und Nachwehen aber noch deutlich spürbar. Nach der Unabhängigkeit siedelten ca. 1,4 Millionen "Pieds-noirs", also Algerienfranzosen, ins Mutterland zurück. Sie waren dort fast genauso wenig willkommen wie die Harkis, Angehörige der algerischen Hilfstruppen der Franzosen, die vor den Verfolgungen im Heimatland nach Frankreich flohen. Hinzu kamen über die Jahre noch Legionen an Arbeitswilligen, die wegen der wirtschaftlichen Krise in Algerien an der Nordküste des Mittelmeers ihr Auskommen suchten. Billige Arbeitskräfte, die in Frankreich gerne genutzt wurden, ohne ihnen irgendeinen gesicherten Status anzubieten.Die französische Bevölkerung reagierte, wie alteingesessene Bevölkerungen in solchen Situationen gern reagieren, mit Misstrauen, offener Ablehnung und Hass. Eine Fremdenfeindlichkeit, die aufgrund mangelnder Aufarbeitung zu vielen der aktuellen Probleme mit Migration in Frankreich führen musste. Besonders unübersichtlich wurde die ganze Sache durch diverse Interessensgruppen, wie die OAS (eine französische Untergrundbewegung während der Endphase des Algerienkriegs), der UFRA (einem rechtsextremistischen Verband von Algerienheimkehrern), unterschiedlichen Gewerkschaftsgruppen etc., die alle nicht vor Machtdemonstrationen und Gewalt zurückschreckten, um ihre Interessen zu verteidigen.Funke in diesem Pulverfass ist dann der brutale Mord an einem französischen Busfahrer am 26. August 1973. Der psychisch kranke Algerier Salah Bougrine schneidet diesem während einer Fahrt die Kehle durch und verletzt vier Fahrgäste durch Messerstiche. In der Folge dieser Tat kommt es zu fremdenfeindlichen Unruhen, rassistischer Hetze, zu Übergriffen und zu ca. 15 Morden an Algeriern allein in Marseille.Dieses Faktengerüst verwendet Dominique Manotti in Marseille73 und platziert die Handlung zwischen den 15. August und den 8. Oktober 1973. Daquin und sein Team, Grimbert und Delmas, haben vor der Eskalation bereits Ermittlungen im Umkreis der UFRA geführt. Deshalb horchen sie auf, als am 28. August ein 16jähriger Algerier auf offener Straße erschossen wird. Eigentlich ist dafür die Police Urbaine zuständig ist. "Eine Abrechnung im Milieu" wird gemutmaßt und schnell zu den Akten gelegt, wie eine ganze Reihe von "Unfällen" unter maghrebinischen Zuwanderern in den letzten Tagen. Der Brigade criminelle um Daquin fällt auf, wie nachlässig und stümperhaft die Kollegen ermitteln. Oder wird hier etwas bewusst unter den Teppich gekehrt?Verschleppte Untersuchungen, Verharmlosungen, fremdenfeindliche Seilschaften - auch wenn die Ereignisse im Jahr 1973 angesiedelt sind, kommt so manches sehr aktuell daher.Daquin und seine Kollegen arbeiten gegen alteingesessene Strukturen, gegen Rivalitäten im Évêché, der Polizeizentrale, gegen Ränke, Korruption und Machtspiele. Dabei sieht der Behörden- und Polizeiapparat genauso wenig gut aus wie die das Geschehen begleitenden Medien.Dominique Manotti schreibt auch Marseille73 in dem ihr typischen dokumentarischen, schnörkellosen Stil. Der ist in der Sache und in der Verfolgung der Ermittlungen so detailreich wie sprachlich knapp. Sie hat genauestens recherchiert und breitet das Geschehen fast journalistisch aus. Dankenswerterweise fügt der Verlag noch ein Glossar mit Erklärungen zu Abkürzungen und historischen Personen und Organisationen bei. Bei Privatem und dem Innenleben ihrer Protagonisten ist die Autorin so sparsam wie in ihren Dialogen.Dominique Manotti ist eine engagierte, eine politische Autorin. Und ihre Polizeiromane mit das Beste, was das Genre Kriminalromane derzeit zu bieten hat.