Ein atmosphärischer Kriminalroman, der zwischen einem einsamen piemontesischen Bergdorf und der lärmenden Kino- und Politikmetropole Rom spielt: «Longo ist einer der fabelhaftesten Schriftsteller Italiens.» Die Welt
In einem verlassenen Alpendorf wird ein Filmproduzent und Bruder eines ehemaligen Democrazia-Cristiana-Politikers tot in seinem Jaguar aufgefunden. Seine Frau, eine frühere Schauspielerin, in die eine ganze Generation verliebt war, ist spurlos verschwunden. Für die Ermittlungen muss sich Commissario Arcadipane, eigentlich Turiner, in dem einsamen Bergdorf, das aus einer Handvoll Häuser besteht, niederlassen. Dort warten misstrauische Bewohner und ein Rätsel auf ihn, das ihm Kopfzerbrechen bereitet.
Ein zu komplizierter Fall, um nicht seinen alten Freund und Mentor Corso Bramard um Hilfe zu bitten sowie die ebenso undisziplinierte wie unverzichtbare Isa Mancini. Beide befinden sich gerade in einer schwierigen Phase ihres Lebens. Möchten sie gemeinsam die Wahrheit ans Licht bringen, wird es nötig sein, in alten Geheimnissen und neuen Machenschaften zu wühlen und ein komplexes Geflecht aus politischen Intrigen zu entwirren. Und am Samstag wird abgerechnet.
«Viel mehr als ein Krimi, aber nie weniger. Davide Longo gehört zu den spannendsten italienischen Schriftstellern.» FAZ
Besprechung vom 07.10.2024
Wenn Blicke töten könnten
Wo die Moderne noch nicht das letzte Wort hat: Davide Longo führt in ein Dorf im Piemont, das von seiner schuldhaften Verstrickung weggespült zu werden droht.
Ein römischer Filmproduzent wird erdrosselt in seinem Auto gefunden, in einem abgelegenen Bergdorf des Piemonts: Terenzio Fuci, Ehemann der früheren Filmdiva Vera Ladich. Die war mit ihm angereist, nun ist sie verschwunden - entführt oder ebenfalls ermordet? Als Anna Mattalia in Clot geboren, verließ sie das Dorf im Alter von sechzehn Jahren mit dem zwanzig Jahre älteren Fuci, der für sie in Rom eine Filmkarriere maßschneiderte. Zehn Jahre drehte sie Filme, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms verschwand sie 1973 aus der Öffentlichkeit.
Vera Ladichs Branchenname war "Mademoiselle le look", in jedem Film warf sie den Zuschauern einen rätselhaften Blick zu, an den sich das Publikum noch Jahrzehnte später erinnert. Fünfzig Jahre ist das her, und jetzt soll das ungleiche Paar zurückgekommen sein, um drei Gräber zu kaufen? Weil Veras geliebter Bruder Aldo, der Jahrzehnte in einem Pflegeheim für psychisch Kranke verdämmerte, gestorben ist? Für Commissario Vincenzo Arcadipane, der mit seiner Entourage im Gebirge die Ermittlungen aufnimmt, ist das nur eine von vielen Unwahrscheinlichkeiten.
Viele historische Schichten überlagern sich in diesem Fall zu einem pickelharten Sediment, das seine Geheimnisse nicht offenlegen will. Welche Rolle spielt etwa Fucis längst verstorbener Bruder Amilcare, der als graue Eminenz der Democrazia Cristiana Jahrzehnte die Strippen in der italienischen Politik zog und eng mit dem Vatikan war? Welche Rolle spielt in diesem Setting der 1958 begonnene Bau des Staudamms, der zur Abwanderung von ganzen Familien und zur Verlagerung des Dorfes führte?
Das Motto von Antoine Volodine, das der 1971 geborene Davide Longo dem Roman voranstellt, sollte man im Hinterkopf behalten: "Absonderlichkeit ist die Form des Schönen, wenn das Schöne verzweifelt ist." Mit den Absonderlichkeiten, Menschen wie Vorkommnissen, befasst sich Longo voller Hingabe, stellt Fallen, führt sein Personal und die Leser in die Irre. So hat etwa die nicht mehr genutzte Kirche kein Kreuz, aber einen bedeutenden Freskenzyklus eines Malers namens Johannes van der Drift, des sogenannten Meisters von Clot. Die Madonna hat einen Salamander auf dem Busen, alles fiktiv, aber jederzeit vorstellbar.
Das Dorf hat siebenunddreißig Einwohner und einen Bürgermeister, in der Neuzeit ist es trotz Industriepolitik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht angekommen. Nicht alle haben dem "Sucho" abgeschworen, einem keltischen Fruchtbarkeitskult. Der ermittelt einmal im Jahr den potentesten Mann des Dorfes, der dann das Recht hat, allen Frauen im gebärfähigen Alter beizuwohnen, ein Ausleseverfahren, um den Fortbestand der Population zu sichern. Welche Rolle spielt darin Ludwig Ubac, der seinerzeit Ladich heiraten wollte? Welche spielte Amilcare, dem der Kult ein Dorn im katholischen Auge war? Welche ein französischer Fortsetzungsroman aus dem Jahr 1852? Und welche der Mord an einem Ingenieursehepaar, das am Staudamm mit baute?
Es ist der vierte Fall, den Davide Longo, Lehrer für kreatives Schreiben in Turin, mit den Ermittlern Bramard und Arcadipane in den Hauptrollen vorlegt. Nach "Der Fall Bramard" (F.A.Z. vom 25. April 2015), "Die jungen Bestien" (F.A.Z. vom 5. April 2020) und "Schlichte Wut" (2022) ist er die bislang umfangreichste Lieferung. Der Titel meint, das Leben präsentiere eines Tages die Rechnung, auch wenn das unter Umständen Jahrzehnte dauern könne. Die Frage "Wer war es?" am Anfang einer Ermittlung zu stellen, das hat Arcadipane von Corso Bramard gelernt, ist falsch: "Denn sie blendet, wie in die Sonne zu schauen." Der grüblerische, stets intuitiv zu Werk gehende Bramard, schwer krank und längst im Ruhestand, kann nicht widerstehen, als Arcadipane ihn als Freiwilligen rekrutiert. Er selbst ist eingekeilt zwischen einem Vorgesetzten, der wegen einer sensationslüsternen Öffentlichkeit Ergebnisse fordert, seinen teils wenig begabten Untergebenen und einem kaum auskunftsbereiten Bergvolk.
Zudem ist sein Privatleben verworren. Der Draht zu seinen Kindern ist wackelig, seine ehemalige Gattin drängt ihn, die gemeinsame Wohnung zu verkaufen. Der dreibeinige Hund Trepet ist ein Klotz am Bein, seine neue Geliebte anspruchsvoll. Ariel, eine Psychologin mit verkrüppelten Beinen, hat Arcadipane fünf Jahre behandelt. Erst seit Kurzem lässt sie ihn in ihr Bett, was den Mittfünfziger unter erheblichen Leistungsdruck setzt.
Mit der angelsächsischen Erzählweise hat Davide Longo nichts im Sinn, über die Klippe hängen hier keine Kapitelenden. Er liebt die melancholische Menschenbeobachtung, gelegentlich das Pathos. Tatsächlich gelingen ihm Figuren, die im Gedächtnis bleiben, und Vergleiche, die das Übliche des Genres hinter sich lassen: "Der Bahnhof Lingotto verhält sich zum Bahnhof Porta Nuova wie die ersten Erkundungen an den eigenen Geschlechtsteilen zum Sex." - "Motorroller, die (...) bei Schlaglöchern hochschnellen wie Schallplattennadeln bei einem Kratzer." Wer die Verfilmung des Romans "Acht Berge" kennt, weiß, was epische Ausgestaltung im Piemont bedeuten kann: Longo interessiert sich nicht für erzählerische Ökonomie, er nimmt sich fünfhundertfünfzig Seiten Zeit für seinen Spannungsbogen, weil er Boutique schreiben will, nicht Industrie. Wer sich darauf einlässt und manche Geduldsprobe besteht, wird belohnt. HANNES HINTERMEIER
Davide Longo: "Am Samstag wird abgerechnet". Kriminalroman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner und Felix Mayer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 560 S., geb.
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