Ich mag sehr gern Romane auf zwei Zeitebenen und besonders, wenn die Handlung in den letzten 100 Jahre in Deutschland spielt. Der Klappentext von Fernwehland lockte mich nicht gleich. Unbekannt war mir das Schiff Astoria und seine wechselvolle Vergangenheit, so dass ich keine Vorstellung hatte, was die Autorin Kati Naumann auf den 400 Seiten Spannendes zu erzählen hat. DDR und Kreuzfahrtschiff, Reisen in die Karibik für DDR Bürger? Davon hatte ich noch nie gehört. Was nicht schlimm ist, denn Lesen bildet!
Hatte schon oft Positives gehört und gelesen zu den Büchern von Kati Naumann. Ich wurde kurz vor der Lektüre und währenddessen auch sehr infiziert, im Netz nachzulesen und Filmberichte anzuschauen. Das liebe ich, durch Lesen mich mit unbekannten und neuen Themen zu beschäftigen.
Die Astoria wurde 1946 getauft auf den Namen Stockholm. Acht Jahre nach der Jungfernfahrt ist sie Akteur in einer Schiffskatastrophe, sie kollidiert mit der Andrea Doria. Das schwedische Unglücksschiff gelangt günstig in den Besitz der DDR und gleitet für 25 Jahre unter dem Namen Völkerfreundschaft durch die Meere.
Der Roman erzählt die Geschichte von den beiden ehemaligen Völkerfreundschaft-Besatzungsmitgliedern Simone und Henry, die 2019 privat mit der inzwischen unter englischem Reeder fahrenden Astoria eine Reise unternehmen. Auf dem Schiff lernen sie die Schwedin Frida kennen. Diese war 1948 Zeugin der Schiffstaufe der Stockholm in Göteborg. Das Schiff nimmt seit 70 Jahren eine große Rolle in ihrem Leben ein. Frida ist eine liebenswerte Protagonistin, deren Geschichte so wunderbar die Handlung begleitet und miterleben lässt. In Simone und Henry findet sie Menschen, denen Herz auch für ihr Schiff schlägt. Gegenseitig erzählen sie sich ihr Leben und von Ihrer Leidenschaft für das Schiff. Die Verbundenheit zu Schiffen und ihrer Technik, ist bei Frida, Simone und Henri von Kindesbeinen vorhanden.
Wir Leser erleben dadurch die vielen wichtigen Stationen im Schiffsleben. Ich erhielt Antwort, wie es dazu kam, dass die DDR ein Kreuzfahrtschiff kaufte? Um den Kauf zu finanzieren gab es die Bewegung Steckenpferd die Bevölkerung hat sich enorm engagiert, damit der Staat dieses Prestigeobjekt kaufen konnte. Wie war es auf diesem Schiff zu arbeiten und Häfen in freien Ländern anzufahren? War da nicht enorme Fluchtgefahr? Wie war es für die Daheimgebliebenen nur die Berichte zu hören, Bilder zu sehen lockte da nicht Fernweh? Wie konnte Frida im Kontakt mit ihrem Schiff bleiben, während es unter DDR Flagge fuhr?
Absolut überrascht hat mich, als ich später las, "1970: Die DDR zählt zu den bedeutendsten Seefahrernationen der Welt, ...größte europäische Flotte. Mehr als 10.000 Seeleute fahren auf 203 Schiffen und laufen Häfen in über 100 Ländern an."
Ein Land, welches seine Bürger anstiftet sich gegenseitig zu bespitzeln und etliche Freiheiten nimmt, hat so viele Seefahrer, für die außerhalb der Dreimeilengrenze ein freieres Leben gilt. Fühlten sie sich frei oder doch eingesperrt?
Es dauerte nicht lange und ich war infiziert von der faszinierenden Geschichte dieses ältesten und wäre nicht Corona dazwischengekommen, seetüchtigsten Kreuzfahrtschiffes.
In Vorbereitung hatte ich die wiki-Einträge zum Schiff gelesen und kannte einige wichtige Fakten. Kati Naumanns Roman merkt man an, wie detailliert sie recherchiert hat, Ihre Geschichte passgenau konzipiert und aufgeschrieben hat und die historischen Ereignisse wunderbar integriert sind. Vergangenheitserzählung und Gegenwartsschilderung greifen wie ein Reißverschluss ineinander. Kati Naumann hat viel nachgelesen und auch ausführlich mit Zeitzeugen gesprochen und Orte besucht. Sie bringt so viele Informationen, Zeitgeschehen unter, hat auch das tägliche Leben mit seinen Eigenheiten harmonisch integriert.
Fernwehland war mein zweites Buch der Autorin und mein Monatshighlight Februar. Im Januar erst habe ich Als wir noch Kinder waren gelesen.
Der Roman schafft hervorragend, die Emotionen zu transportieren, lässt einen die Verbundenheit der Belegschaft spüren, wie es war auf der Völkerfreundschaft zu arbeiten, das Tor der Freiheit und Schiffsgeschichte zu erleben. Der lebendige Schreibstil hat für viel farbiges Kopfkino gesorgt.
Ich konnte das Buch nur schwer aus der Hand legen und kann es nur wärmstens empfehlen. Volle Punktzahl mit Sternchen.