Erfurt, 1965: Im »Haus der Roten Armee« lernen sich eine Studentin aus der DDR und ein Student aus der Schweiz kennen. Beide sind blutjung - sie 21, er 23. Sie verlieben sich ineinander und wollen ein gemeinsames Leben, doch trennt sie der Eiserne Vorhang. Dass er zu ihr in den Osten gehen könnte, kommt für beide nicht in Frage, und so suchen sie verzweifelt nach einem Weg für sie in den Westen. Als sie einsehen müssen, dass es legal nicht geht, schmieden sie einen genialen Plan und wollen das System von der Seite her angreifen, der es am wenigsten Aufmerksamkeit schenkt: Die DDR tut alles, um die Menschen an der Ausreise zu hindern, also versuchen sie es aus der entgegengesetzten Richtung, bei der Einreise. Die Route führt über Prag, sie bereiten alles minutiös vor, doch als der entscheidende Moment da ist, läuft nichts wie geplant . . .
Thomas Strässle erzählt von der Macht der Liebe gegen die Übermacht der Systeme. Er erzählt eine wahre Geschichte, bei der einem regelmäßig der Atem stockt - die Geschichte zweier junger Menschen, die alles aufs Spiel setzen, die Geschichte seiner Eltern.
Besprechung vom 08.02.2025
Liebe gegen Unfreiheit
Thomas Strässle erzählt von einer Republikflucht
Der Reiz von Fluchtgeschichten aus der DDR liegt im ausgeklügelten Geschick, die schier unbezwingbare Macht eines Hochsicherheitsstaates zu überwinden. Geist besiegt dann Gewalt, Raffinesse überlistet stumpfe Unterdrückung, David bezwingt Goliath. Der von F. C. Delius nach einem realen Fall erzählte "Spaziergang von Rostock nach Syrakus" erfordert eine siebenjährige Vorbereitung: In einer aufwendig präparierten Jolle segelt im Juni 1988 ein junger Kellner von Hiddensee nach Dänemark, um mit Seumes Reisebuch von 1803 in der Hand Italien zu erreichen und danach - so die schelmische Pointe - wieder in die DDR zurückzukehren. Thomas Strässle, der jetzt auch als Jury-Vorsitzender beim Bachmannpreis präsente Schweizer Kritiker und Buchautor, hat eine nicht minder akribisch vorbereitete Flucht im Jahre 1966 dokumentiert. Ihre Pointe besteht darin, dass es sich um die Geschichte seiner Eltern handelt und damit auch um die eigene.
Geschichte ist dabei im doppelten Wortsinn zu verstehen, denn es geht in Strässles "Fluchtnovelle" gleichermaßen um dokumentierende Historia wie darstellende Fabula. Natürlich ist das auch eine Neuigkeit, also eine "novella" im romanischen Sinne, weniger aber ein Gattungsbeispiel nach Boccaccio oder Goethe. Nicht ein Dingsymbol oder eine unerhörte Begebenheit führen hier Regie, sondern ganze Bündel davon. Dokumentarerzählung als Entsprechung zum Dokumentartheater der Sechzigerjahre wäre als Untertitel passender, zumal Strässles wichtigste Grundlage eine Tonbandkassette aus dem Schweizerischen Literaturarchiv ist. Sie zeichnet ein Gespräch seiner Eltern mit dem Schriftsteller Hermann Burger von 1975 auf, der die Geschichte selbst literarisieren wollte. An Dynamik und Spannung lässt sie keine Wünsche offen, wie jetzt auch ein halbstündiger Dokumentarfilm des "Schweizer Radios und Fernsehens" zeigt, in dem der recherchierende Sohn neben den erzählenden Eltern und ihren jüngeren Schauspielerdoubeln das rasante Geschehen nachstellt.
Die zentrale Idee war ein falscher Reisepass. Damit wollte der Vater, ein Schweizer Germanistikstudent in Berlin, seine in Erfurt kennengelernte Geliebte von der Dresdener Kunsthochschule in den Westen bringen. Ein vom legendären Agentenanwalt Wolfgang Vogel angebotener Freikauf war für ihn einfach unerschwinglich. So überredete Strässles Vater eine ähnlich aussehende Freundin, sich mit dem Foto seiner künftigen Frau aus Dresden einen Schweizer Pass ausstellen zu lassen. Der sollte dann zusammen mit einem nur scheinbar benutzten Flugticket nach Prag eingeschleust und dort mit einem gefälschten Einreisestempel für den Rückweg in die Schweiz versehen werden. Die fast am Hácek auf dem C in CSSR scheiternden Versuche, sich aus Buchstaben vom Stempelmacher und selbst zugeschnittenen Gummiplatten das exakt nachgebildete Amtssiegel zu verschaffen und in einer Seife versteckt einzuschmuggeln, erzählt Strässle mit Akribie und Sinn für Spannung. Ihren Höhepunkt erreicht sie, als der Vater bei der Ankunft in Prag plötzlich einen ganz neuen Stempel in roter statt grüner Farbe in seinem Ausweis vorfindet und damit das mitgeführte Duplikat hinfällig wird.
Genau an solchen Stellen zeigt sich auch eine literarische Qualität. Dann verwandelt sich Historia in Fabula, Strässle wechselt vom nüchternen Berichtstil in den Inneren Monolog, der im Kopf seiner Mutter das schwierige Manöver begleitet, sich am einzigen Polizisten vorbei rückwärts aus der Prager Ankunftshalle in den Sicherheitsbereich zu schleichen. Dort gelingt es ihr unter höchster Anspannung, mit anderen aus Zürich ankommenden Swiss-Air-Passagieren abermals einzureisen und so den begehrten Ankunftsstempel in den gefälschten Pass zu bekommen. An anderen Wendepunkten fügt Strässle Dialogpassagen (wohl aus Hermann Burgers Audiokassetten), Auszüge aus Gesetzestexten, Meldungen aus dem "Neuen Deutschland", Briefe der Tochter an die ahnungslose Mutter in der DDR oder eigene kommentierende Reflexionen ein. So wird diese Dokumentarerzählung zu einem packenden Protokoll zwischen den Jahren 1966 und der Gegenwartsrecherche. Das Grundrecht der Liebe wird auf die Motivation für die Flucht und die moralische Legitimation minderer Gesetzesverstöße beschränkt. Nirgends regen sich hier romantische Sentimentalität oder politischer Triumph über einen Unrechtsstaat. Die Stärke dieses Textes liegt in der Nüchternheit und Präzision sowie der Vielfalt seiner Ausdrucksformen. ALEXANDER KOSENINA
Thomas Strässle: "Fluchtnovelle".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 121 S., geb.,
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