Besprechung vom 08.05.2018
Die unsichtbare Siebte
Wir ist ein anderer: John Steinbecks Forschungsreise mit dem Meeresbiologen Ed Ricketts in deutscher Neuübersetzung
Nachdem John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns", sein bis heute berühmtestes Werk, im Frühjahr 1939 erschienen war, geriet der amerikanische Autor in eine kreative Krise. Ihm war mit der Geschichte über die Flucht der Familie Joad von Oklahoma nach Kalifornien zwar ein Bestseller gelungen, aber der Teil seines Lebens, aus dem heraus der Roman entstanden war, sei vorbei, schrieb Steinbeck im Oktober ins Tagebuch. Seinen künftigen Ansatz kenne er noch nicht, doch er werde "ihn eher in den Gezeitentümpeln und auf dem Glasplättchen eines Mikroskops finden als bei den Menschen".
Steinbeck, 1902 in Kalifornien geboren, hatte das Studium in Stanford mehrfach zum Geldverdienen unterbrochen und bei der Auswahl seiner Kurse die erhoffte Zukunft als Autor in den Blick genommen. Am meeresbiologischen Institut der Universität befasste er sich aber auch mit Naturwissenschaft. In den dreißiger Jahren wurde der freiberufliche Wissenschaftler Ed Ricketts sein engster Freund. Dieser literarisch und philosophisch beschlagene Lebemann versorgte von Monterey aus Schulen und Labore mit Tierpräparaten und war bestens vertraut mit der Meeresfauna der amerikanischen Westküste. Steinbeck hat ihn und sein Labor an der Cannery Row in dem Roman "Die Straße der Ölsardinen" (1945) verewigt.
Als sich Steinbeck nach "Früchte des Zorns" vom Roman als literarischer Form lösen wollte, charterte er mit Ricketts ein Schiff, um nach Mexiko zu fahren und den Golf von Kalifornien zu erforschen. Der Bericht darüber war seiner Witwe Elaine zufolge Steinbecks Liebling unter all seinen Büchern. Jetzt hat Henning Ahrens diesen Klassiker der Reise- und Naturliteratur neu übersetzt.
Der tagebuchartige, in "Wir"-Form verfasste Bericht schildert die Reise mit der "Western Flyer" im März und April 1940. Als Besatzung werden ihr Kapitän, ein Mechaniker und zwei Matrosen genannt. Nach der Umrundung der Südspitze Niederkaliforniens erreicht das Schiff den Golf.
Den wirbellosen Meerestieren seiner Uferzonen gilt das Interesse der Forscher. Die Ankunft an den Sammelplätzen müssen sie nach den Gezeiten ausrichten. Wenn sich die Flut zurückzieht, laufen sie das Ufer ab und sammeln die Seesterne, Seefächer und Seegurken, die Spritz- und Strudelwürmer, die Steckmuscheln und Stachelschnecken: "Die unfassbare Schönheit der Gezeitentümpel, die leuchtenden Farben, die wimmelnden Arten fraßen die Zeit."
Biologie wird hier als Lebenswissenschaft verstanden, die über Laborforschung hinausgehen muss. Die Fülle an Beobachtungen und Abschweifungen, die der Band versammelt, ignoriert daher fröhlich alle Grenzen zwischen einzelnen Wissensfeldern: "Es ist ratsam, den Blick ab und zu vom Gezeitentümpel zu heben, ihn auf die Sterne zu richten und dann wieder auf den Tümpel zu senken." So behandelt der Eintrag vom 18. März etwa Luftspiegelungen und ihre Bedeutung für die Christianisierung der Indianer, "Verblödung der Aufmerksamkeitszentren" im Alter, Impotenz durch Besitzverlust und noch manches mehr. An zentraler Stelle steht am 24. März, dem Ostersonntag, ein Essay über das "nicht-teleologische Denken", das nach dem "Was" und dem "Wie" fragt statt nach dem "Warum".
Dem Buch gelingt es aber, seine wissenschaftlichen und philosophischen Aussagen immer im Wechsel mit etlichen abenteuerlichen oder albernen Erlebnissen an Bord und bei Landgängen zu vermitteln. Selbst wenn es etwas großtuerisch darum geht, dass die Handvoll Leute auf der "Western Flyer" nach neun Tagen im Golf fast doppelt so viele Stachelhäuterarten gesammelt habe wie einst eine weit größere und besser ausgestattete Forschergruppe, folgt zur Klärung der eigenen Maßstäbe die essentielle statistische Auskunft, man habe außerdem "2160 Exemplare von zwei Spezies Bier" aufgelesen.
Bei aller Fülle klafft jedoch eine bezeichnende Lücke. Über die Reisevorbereitungen heißt es, man brauche eine erstaunliche Menge an Essen, "um sieben Menschen sechs Wochen lang zu ernähren". Zählen wir nach: Ricketts, Steinbeck, dazu die vier Männer der Crew, das sind nur sechs Personen - die siebte war Steinbecks erste Frau Carol, aber der Reisebericht blendet sie aus. Die Expedition wird zu einer reinen Männersache.
Dem Viking-Verlag gefiel es nicht gerade, dass sich sein Erfolgsautor Steinbeck neben einem allenfalls Spezialisten bekannten Biologen als Verfasser nennen lassen wollte. Steinbeck wies den Vorschlag, ihn allein als Autor des Reiseberichts und Ricketts als Autor des umfassenden biologischen Anhangs anzuführen, aber zurück: Das Buch sei das Produkt ihres gemeinsamen Arbeitens und Denkens. Der Sechshundert-Seiten-Band erschien im Dezember 1941 kurz vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, die öffentliche Aufmerksamkeit galt danach anderen Dingen als der Meeresbiologie.
Drei Jahre nach Ricketts' Unfalltod im Mai 1948 brachte Viking den Reisebericht - ohne Bilder und Anhang - neu heraus, nun doch nur noch unter Steinbecks Namen. In dieser Form wurde das Buch 1953 auch auf Deutsch veröffentlicht. Das erzählerische "Wir" muss damals aber den Übersetzer Rudolf Frank so irritiert haben, dass er daraus in freier Wahl "ich", "Ed" oder "Ed und ich" machte und sogar noch kuriose Formulierungen wie "vermutlich ich" oder "ich sage nicht, wer" einstreute. Der Stil geriet oft altmodisch: Wenn Indianer etwas besprachen, dann "pflegten sie Rats miteinander". Die Neuübersetzung war also schon lange nötig, zumal Ricketts' Briefe und Reisenotizen heute in vorzüglichen amerikanischen Editionen vorliegen, die neue Einblicke in die Entstehung des Buchs bieten.
Die neue Fassung kehrt erfreulicherweise zum "Wir" zurück und enthält auch jene Abschnitte, die Frank stillschweigend gestrichen hatte. Der Stil ist moderner und zupackender, insgesamt liest sich der Text deutlich flüssiger. Getrübt wird die Freude durch einige grobe inhaltliche Schnitzer, die den Sinn verdrehen oder Pointen verderben. Zum Beispiel übersetzt Ahrens die Bierstatistik so falsch wie witzlos: "Wir hatten 2160 Tiere und zwei Biersorten an Bord."
Der Band bleibt weit hinter dem zurückbleibt, was sonst die Klassiker-Ausgaben des Mareverlags auszeichnet, die für ihr reiches Zusatzmaterial und die erhellende Kommentierung geschätzt werden. Ahrens belässt es bei einem dünnen Vorwort von gerade einmal vier Seiten. Die Anwesenheit von Carol Steinbeck auf der "Western Flyer" und deren Ausblendung im Reisebericht hält er nicht für erwähnenswert. Aufschlussreich wäre es gewesen, zu manchen Erlebnissen, die der Bericht genauso übergeht, Auszüge aus Ricketts' Notizen lesen zu können. Überhaupt hätte der Pionier des ökologischen Denkens eine angemessenere Darstellung verdient als derart banale Worte: "Ricketts war ein guter Typ, der Gutes bewirken wollte."
THORSTEN GRÄBE
John Steinbeck: "Logbuch des Lebens".
Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Mareverlag, Hamburg 2017. 365 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.