Besprechung vom 22.03.2024
Im Schnittpunkt von Rasse und Religion
Zuchtwissen und Diskriminierung: David Nirenberg optiert für eine sehr lange Geschichte rassistischer Vorstellungen und Praktiken
Die wissenschaftliche Debatte über Rassismus ist derzeit in vollem Gang. Gefragt wird, ob er sich in kollektiven Vorurteilen erschöpft oder ob er - so die Vertreter der "Critical Race Theory" - bis zur Unkenntlichkeit tief in die Strukturen, in das Machtgefüge und die Rechtsordnungen auch liberaler Staatswesen eingedrungen ist, also in institutionelle Arrangements, auf die wir doch eigentlich stolz sein wollen. Auch seine Vorgeschichte ist umstritten: Wurzelt er erst in den wissenschaftlichen Rassentheorien des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, oder reicht er tiefer in die Vergangenheit zurück? Die erstere Position hat an Bedeutung verloren, denn mag sich der moderne Rassismus auch in ein biologisches Vokabular einkleiden, so hat er doch in Wirklichkeit viel mit antiken Klimazonen-Theorien zu tun und wenig mit genetischen Analysen.
Forscherinnen wie Geraldine Heng haben zugleich gezeigt, dass der religiöse Diskurs der ferneren europäischen Vergangenheit mit Denkformen der Vererbung, der Degeneration durch Vermischung sowie der "Reinheit des Blutes" (limpieza de sangre) angereichert war. Kurz gesagt: Der moderne Rassismus erscheint uns heute archaischer, der vormoderne dagegen biologieaffiner als noch vor wenigen Jahren.
Lange vor seiner Einbürgerung in Zentraleuropa wurde das Substantiv "Rasse" auf der Iberischen Halbinsel um 1400 aus tiermedizinischen Traktaten über Pferde entnommen und von dort auf Juden und Muslime angewendet, insbesondere dann, wenn diese zu Neuchristen wurden, aber anschließend noch generationenlang mit Misstrauen und Diskriminierung zu kämpfen hatten. "Der Sohn eines Esels muss Iah schreien", schreibt Alfonso Martínez aus Toledo um 1438 - für ihn ein Argument, dass man auch die Nachfahren getaufter Juden nicht zu öffentlichen Ämtern zulassen soll.
Aber lässt sich überhaupt annehmen, dass man jemals eine Ursprungssituation des "Rassedenkens" finden wird? Der renommierte Historiker des europäischen Antijudaimus David Nirenberg votiert dafür, diese Suche aufzugeben und den Nexus von landwirtschaftlichem Zuchtwissen und Religion als ein "Potential" anzusehen, das noch viel tiefer in die Vergangenheit der globalen Gesellschaften hineinreicht, insofern es seit der Jungsteinzeit mit der Praxis landwirtschaftlicher Züchtung und Kreuzung einhergeht.
Das iberische Beispiel des ausgehenden Mittelalters, das er selbst maßgeblich miterforscht hat, ergänzt er durch frappierend ähnliche biokulturelle Überzeugungen im Herrschaftsbereich der muslimischen Almohaden im Nordafrika des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts: Zwangsbekehrungen machten auch dort aus Christen und Juden nicht einfach Muslime, sie provozierten ein ganzes Repertoire diskriminierender Maßnahmen, denen die Nachfahren der Bekehrten unterworfen waren. Je folgsamer sie sich in die Mehrheitsgesellschaft einfügten, so klagt einer der Betroffenen, desto unduldsamer reagierten die "echten" Muslime auf sie. Rassendenken, so Nirenberg, versorgte "das Kollektiv mit einem wirkungsvollen Instrumentarium zur intermuslimischen Diskriminierung, Exklusion und Hierarchisierung", und dies bis ins zwanzigste Jahrhundert.
Allerdings reicht Nirenberg den Schwarzen Peter der "Ursprünge" nicht einfach an die Almohaden weiter. Vielmehr greift er von seinen beiden Fallbeispielen weiter aus und will zeigen, dass der besagte "Schnittpunkt von Rasse und Religion [...] immer ein Potential ist, das im Judentum, im Christentum und im Islam vorhanden ist". Dieses erkennt er in der Rede Gottes in der Genesis (17,7: "Ich errichte meinen Bund zwischen mir und dir und deinem Samen") und der aus ihr gefolgerten Vorstellung von Fortpflanzung und Vermischung. Selektive Züchtung entdeckten aber schon die Bewohner der sibirischen Arktis etwa zu der Zeit, zu der im Nahen Osten domestiziertes Getreide auftauchte. Das besagte Potential hielt sekundär Einzug in biotheologische Wissenssysteme, die behaupten, dass die Nähe zu überirdischen Mächten wie organische Eigenschaften durch Vererbung an Nachkommen weitergegeben wird. Die drei großen monotheistischen Religionen sind nur die uns am nächsten liegenden Beispiele hierfür, wie die Bedeutung des Samens und des Säens auch bei den Griechen, den Persern, den Indern und in China zeigt.
Der Wissenschaft wird mit dieser These freilich eine noch schwerere Verantwortung aufgebürdet. Denn wenn Nirenberg recht hat, dann geht es künftig darum, aufzuklären über einen vor Jahrtausenden zu "Common Sense" gewordenen Fehlschluss vom gekonnten Säen und Züchten auf den Umgang mit Minderheiten. Auch entlastet Nirenbergs Konzentration auf die religiösen Diskurse andere Sinnsysteme wie die vormoderne Wissenschaft, die der Kölner Historiker Karl Ubl jüngst in die Untersuchung miteinbezogen hat (Historische Zeitschrift 316, 2023). Folgt man Nirenbergs Spur, dann droht die Gefahr, dass man eine alte Meistererzählung europäischer Geschichte fortschreibt: dass die Wissenschaft erst mit Johann Friedrich Blumenbach und Kant eine unangefochten religiöse Weltsicht ablöst. Die Entstehung der aufklärerischen Rassentheorien würde dann wieder zur Scharnierstelle am vermeintlichen Übergang von einer ausschließlich glaubens- zu einer wissensgesteuerten Gesellschaft aufgewertet werden. FRANK REXROTH
David Nirenberg: "Rassendenken und Religion im Mittelalter". Über Ideen zur somatischen Reproduktion von Ähnlichkeit und Differenz.
A. d. Englischen von K.Wördemann. Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 64 S., Abb., br.
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