Besprechung vom 26.11.2024
Doppelte Standards
Andrea Köhler über das menschliche Gesicht
Die Konjunktur des Gesichts hat in der jüngeren Vergangenheit eine stattliche Anzahl von Publikationen in unterschiedlichsten Disziplinen nach sich gezogen. Man denke an Hans Beltings "Faces", Bücher über Gesichtserkennung oder Gesichtschirurgie und die Rolle des Gesichts in sozialen Netzwerken. Einerseits ist allenthalben der Ruf nach einer Vielfalt der Körper zu hören. Andererseits werden Gesichter von Beauty-Filtern einem traditionellen Schönheitsideal angenähert.
Dazu gesellt sich eine Selfie-Kultur, deren Ziel es ist, das Selbstbild zu kontrollieren, wobei jedes dieser Fotos Ort, Zeit und das Handymodell der Aufnahme gleich mitkommuniziert. Dass sich die Verheißung des Internets als grenzenloser Raum, in dem man sich körper- und damit gesichtslos bewegt, als Illusion erwiesen hat, ist die Pointe des gut lesbaren Essays der Publizistin Andrea Köhler. Während das menschliche Antlitz, Georg Christoph Lichtenberg zufolge die unterhaltsamste Fläche auf Erden, mit einem komplexen Nervensystem und sensorischen Rezeptoren versehen ist, erscheinen von Künstlicher Intelligenz erzeugte "Cyberfaces" als Chimäre.
Die Autorin beschreibt das Zusammentreffen von Menschengesichtern als potentielles Drama, das schon bei Neugeborenen zu beobachten ist. Reflektiert das Gesicht der Mutter Geborgenheit und Liebe, entwickelt der Säugling ein positives Selbstbild. Erlebt er Ablehnung, bleibt die Sicht auf das Selbst verstellt. Junge Menschen entscheiden sich laut Köhler immer früher für Botoxbehandlungen, gespritzte Lippen und Nasenkorrekturen, die jeden individuellen Zug verschwinden lassen. Weswegen man bei den 18- bis 29-Jährigen, deren Schönheitsideal ursprünglich aus Reality-Shows und der Porno-Industrie stammt, inzwischen von der "Freeze-Face-Generation" spreche. Die Gewöhnung an mumifizierte Gesichter schreite in Medien und Alltag voran, was Köhler zu einem Abstecher zu Lucas Cranachs Gemälde "Der Jungbrunnen" aus dem sechzehnten Jahrhundert veranlasst, auf dem nach dem wundersamen Bad verjüngte Frauen in die Arme viel älterer Männer gleiten, die offenbar keiner Faltenkorrektur bedürfen.
Die doppelten Standards wirken immer noch nach, wenn über Lifting-Unfälle prominenter Frauen in sozialen Medien Häme ausgeschüttet wird, während Männer nur zur Zielscheibe werden, falls ihr Verlangen nach Operationen, wie etwa bei Michael Jackson, absurde Ausmaße annimmt. Dass Männer sich das Gesicht korrigieren lassen, begann zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Vierzehn Prozent der Soldaten kehrten mit einem zerschossenen Gesicht zurück nach Hause. Deren Akzeptanz war gering, weswegen die meisten in Heimen versteckt wurden, solange an ihnen keine erfolgreiche Operation durchgeführt werden konnte.
Köhler hat ihren Essay gut komponiert, kleine Intermezzi und wissenschaftshistorische Anekdoten wechseln sich ab mit triftigen Überlegungen, etwa zur Geschichte des Spiegels oder zu Fahndungsfotos. Die Autorin befasst sich mit Filmen, liest mit der gleichen Neugier Rilke, Benjamin, Lacan und Baudrillard wie die Texte von auf Doppelgänger spezialisierten Zellforschern. Außerdem gönnt sie sich Exkurse in die Malerei, beispielsweise zu Caspar David Friedrich und dessen gesichtslosen Rückenfiguren.
Die Verknüpfungen so unterschiedlicher Schwerpunkte mag man mitunter für sprunghaft halten, anregend ist das Assoziationsnetz jedoch allemal. Köhler fragt ebenso danach, warum wir uns vom Antlitz des alttestamentarischen Gottes keine Vorstellung machen dürfen, wie sie den Wandel von der Ikone zum Porträt in der frühen Neuzeit nachzeichnet.
Giorgio Agamben hat das vorletzte Wort. Für den italienischen Philosophen ist "der freie Austausch unter Gesichtern" der "genuine Ort der Demokratie". Das letzte Wort hat das nackte Gesicht nicht als Fluch, sondern als Geschenk: "Ohne das Aufleuchten der Freude zwischen Gesichtern", so Köhler, "ohne das Wiedererkennen des Schmerzes in den Zügen des Gegenübers, wäre dies eine trostlose Welt." ALEXANDRA WACH
Andrea Köhler: "Vom Antlitz zum Cyberface". Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit.
Zu Klampen Verlag, Springe 2024. 124 S., geb.
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