Besprechung vom 04.01.2025
Subtiles Gespür
Martin Scherer erinnert an den Wert des Takts
Wer in seinem Literaturverzeichnis die Philologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, den Philosophen Theophrast und die Chansonnière Hildegard Knef unterbringt, ist entweder ein Angeber oder hat etwas zu sagen. Bei Martin Scherer ist es Letzteres: Er versteht es, in seinem Essay über den Takt eine Botschaft mit dem passenden geliehenen Gedankenschatz zu verbinden. Und er erinnert anlässlich eines wachsenden Narzissmus im Internetzeitalter an einige Werte des klassischen Tugendkatalogs.
Scherer befragt eine ganze Reihe von Klassikern, etwa von Baldassarre Castiglione ("Il Libro del Cortegiano"), Baltasar Gracián ("Handorakel") oder Rudolf von Jhering ("Der Zweck im Recht"). Dabei bedient er sich früher Werke des europäischen Abendlandes, der Renaissanceliteratur, der juristischen Reflexion und des modernen Chansons, um auf etwas Altes und Bewährtes hinzuweisen, das uns heute fehlt: "Die Rede ist von einem Esprit, dem ein knochentrockener Moralismus ebenso fremd bleibt wie die läppische Pose, hinter der das pure Nichts dröhnt."
Um auf das zu kommen, worum es ihm mit dem abhandengekommenen Takt geht, nimmt er einen Umweg über die Höflichkeit - nach Assmann eine ursprünglich höfische Verhaltenskunst, die im achtzehnten Jahrhundert in die bürgerliche Schicht eingesickert ist. Scherer gibt sich Mühe, verwandte Begriffe voneinander so präzise abzugrenzen, dass am Ende die Essenz dessen übrig bleibt, was er seinen Lesern empfiehlt. Etwa so: "Höflichkeit beschränkt sich nicht darauf, die Bloßstellung von anderen zu vermeiden. Sie kommt im Schongang daher, will dabei aber nicht auf das Spielerische verzichten."
Souverän liest der Autor allerlei Bildungsgut auf, stellt die Knef mit ihrer Tonart des schwebenden Konjunktivs genauso in die Tradition des Takts wie Theophrasts Beschreibung eines Mannes, dem man heute fehlende Antennen attestieren würde, weil er seiner Geliebten im Fieberkrampf ein Ständchen macht. Takt unterscheidet sich für ihn von Empathie, er ist kein Einfühlen, sondern ein Bewahren der Distanz, er "überrascht mit einem subtilen Gespür für fremde Bedürfnisse". Ein Tun oder ein Unterlassen, "die Momentanverfassung des Gegenübers erahnend". Aber wiederum etwas ganz anderes als Perfektion.
Bei alldem geht es Scherer um etwas Konstruktives: in einem von Hass und Häme erfüllten Diskurs in einer hypernervösen Lebenswelt Distanz, Ironie und ein Gefühl für das Gegenüber in Anschlag zu bringen. Takt lässt sich nicht lernen, aber Scherers Essay kann einen Beitrag dazu leisten, sein Fehlen besser wahrzunehmen und zu bedauern. PHILIPP KROHN
Martin Scherer: "Takt". Über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang.
Zu Klampen Verlag, Springe 2024. 120 S., geb.
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