Besprechung vom 20.10.2020
Sie hat Habe
Und was haben wir? Zu den Gedichten von Verena Stauffer
Einmal wird es eine Dichterin gegeben haben. Sie wird über achtzig und die Doyenne wenigstens der österreichischen Dichter sein. Im Lauf von fünfzig Jahren wird sie acht oder neun Gedichtbände veröffentlicht und von ihren besten Gedichten immer etwas zurückgestellt haben, als Notration für strenge Winter. Immer wird sie es so halten, noch vierzig Jahre lang.
Hoffnungsvoll sagten neulich die Herausgeber der Zeitschrift "Krachkultur" über Lyrik: "Ihre Widerstandskraft bleibt unübertroffen, das Gespräch nicht nur über Räume, sondern über Zeiten hinweg." Freilich lösten dort bis auf ein Gedicht von Marcel Beyer nur ein paar vorabgedruckte "Gedichte, die uns ersetzen" von Verena Stauffer diese Erwartung ein. "Hass" heißen zwei davon. Mit ihnen zeigt die Dichterin ihre geschliffenen Krallen. Das ist nicht der hochhackige Sprachfetischismus von Dagmara Kraus; nicht die tieräugige Neugier von Uljana Wolf; schon gar nicht hat es mit den Männern zu tun, von denen brauchbare Gedichte am wenigsten zu erwarten sind.
Nach einem ersten Gedichtband von Verena Stauffer beim Verlagsprojekt hochroth in Wien 2014 ("zitronen der macht") ist nun ein zweiter bei kookbooks in Berlin erschienen, der auch die Gedichtsequenz aus der "Krachkultur" enthält. Er trägt einen griechischen Namen, der sich scherenschnittartig über den Einband legt.
Ousia - das könnte am Bug eines Fischerboots stehen, neben das Auge gemalt, das es besitzt, falls es ein altgriechisches ist. Der Name ist ein durchschlagender theologischer Begriff. Dabei kommt er im Neuen Testament nur an einer Stelle vor, aber im Gleichnis vom verlorenen Sohn, das so mächtig gewirkt hat wie kaum eine andere Stelle in den Evangelien. In der Lutherübersetzung heißt sie so: "Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit prassen." Luther übersetzt "Ousia" mit "Gut", während das Wörterbuch zum Neuen Testament "Vermögen", "Habe" als Bedeutungen nennt. Habe hört sich ungefestigter an.
Das passt zur Dichterin. Deren Habe sind ihre Gedichte und das Material, aus dem sie erst noch welche fertigen wird, "als nackte Montur"; geschriebene und ungeschriebene, veröffentlichte und unveröffentlichte; zum Beispiel die über einen Fluss, den sie gut kennt und immer wiederfindet:
Felskugeln liegen mitten im Fließgewässer:
gestürzte Wolken. Tannen wachsen aus ihnen, Moospölster
zarte Gräser, Flechten und Farne,
aufgebrochene Nussschalen
Miniaturglockenblumen, Leimkraut,
Ästchen . . .
Betrachtet man den Band, der den Namen "Ousia" trägt, als Boot, das aufs Meer hinausfährt, so ist auch das ein Gleichnis. Entscheidend ist die Unbedingtheit, mit der diese Ausfahrt zustande kommt, unabhängig von guten oder allzu guten Ratschlägen der Verlegerin, von guten oder schlechten Freunden, die auch mitgenommen werden wollen und nicht weiter schaden. Denn allein mit sich kann niemand seine Gedichte abmachen.
Die können wie Schwimmflügel sein, mit denen die Dichterin das Schwimmen lernt, ohne es noch lernen zu müssen. Manche bleiben. Mit diesen bleibenden Gedichten verhält es sich andererseits wie im Gebirge. Gipfel gibt es dort nur, weil der Frost die Oberflächen sprengt und Steine sich lösen und am Abhang vorläufig liegen bleiben, als Sprachgeröll, aus dem immer noch Gedichte werden können. Wer zu den Gipfeln vordringen will, kann dabei ins Rutschen kommen, aber bequem muss die Dichterin es den Lesenden nicht machen.
Kein Philosoph kann dem Denken von Verena Stauffer folgen, das ganz unbekümmert um Gendervorschriften doppelt unvorschriftsmäßig ist, sowohl auf die ungeschlechtliche Fortpflanzung des Denkens unter Männern bezogen, als auch auf eine alles Geschlechtliche im Denken verbietende Haltung, wie sie uns gerade blüht. Auch deshalb lohnt es sich, diese Dichterin in den kommenden vierzig Jahren nicht aus den Augen zu verlieren.
G. H. H
Verena Stauffer:
"Ousia". Gedichte.
Verlag kookbooks,
Berlin 2020. 120 S., br.
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