Besprechung vom 21.11.2024
Heilige Einfahrt!
Monika Rinck widmet sich in ihrem neuen Gedichtband "Höllenfahrt & Entenstaat" höchst unterhaltsam unserer mobilen Gegenwart.
Als vor einigen Jahren der Begriff "Autofiktion" zum Modewort wurde, war die Dichterin Monika Rinck ihrer Zeit weit voraus. Sie arbeitete damals bereits an einer "Auto-Moto-Fiktion" und veröffentlichte sie 2017 unter dem Titel "Kritik der Motorkraft" in der Brueterich Press. Vom Preisgeld des Peter-Huchel-Preises hatte sie sich einst einen gebrauchten Jaguar gekauft - zu Recherchezwecken, wie man jetzt vermuten darf, denn das Thema Automobilität beschäftigt Rinck auch in ihrem neuen Gedichtband "Höllenfahrt & Entenstaat".
Hatte sie für die "Kritik der Motorkraft" noch so poesieferne Werke wie "Das große Fahrschulbuch" oder die Straßenverkehrsordnung zur Kenntnis genommen, so fließen in "Höllenfahrt & Entenstaat" umfangreiche Schriften ein, die an Amtlichkeit kaum mehr zu überbieten sind: die Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung, der Finanzierungs- und Realisierungsplan 2021 bis 2025 der Autobahn GmbH oder der Änderungstarifvertrag Nr. 8 für Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer des Bundes.
Wer hier noch behauptet, Poesie habe mit der Wirklichkeit nichts zu tun, der hat die Hupen nicht gehört. Rincks Gedichte verfügen über mehr Straßenhaftung als viele Bundestagsreden. An Sachkenntnis mangelt es ihnen schon gar nicht. Und das lyrische Element dieser Gedichte? Darauf kommen wir später zu sprechen, denn erst einmal fällt auf, dass Rincks neuer Gedichtband eine klare Position einnimmt. Technischer Fortschritt und Beschleunigung werden nicht futuristisch besungen und bejubelt, sondern - der Titel "Höllenfahrt & Entenstaat" deutet darauf hin - kritisch hinterfragt. Auch wenn das Wesen der Poesie Offenheit und Vieldeutigkeit ist, politische Stellungnahmen und Anklagen hingegen als völlig unlyrisch gelten, so können auch Gedichte einen bestimmten Blickwinkel haben. Und aus Rincks Perspektive stellt sich eine Autobahnsituation heutzutage etwa so dar: "Gewaltige Trecker kommen, hupen, bleiben stehen. Und du, mein liebes Kind, du wirst dich nicht mehr auf die Straße kleben!" Das Bild macht deutlich, wer hier die Macht hat und wer weichen muss. Die Jungen den Alten, die kleinen Hände der PS-Kraft, das Klima den Subventionen. Auch wenn es heißt: "Sing mir das Dienstwagen-Privileg in Es-Dur" oder "Das Maut-Desaster - ein Oratorium", dann dürfte sich hinter dem lyrischen Ich ebenso wenig eine Verfechterin des Dienstwagen-Privilegs verbergen wie eine begeisterte Wählerin Andreas Scheuers.
Die Literaturliste am Ende des Bandes verzeichnet neben jenen amtlichen und juristischen Schriften, die niemals in Buchhandlungen ausliegen, auch eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Werke, die sich mit Unterweltfahrten und literarischen Höllenvisionen beschäftigen. Unser Umgang mit den Ressourcen der Erde und die Vernichtung der eigenen (klimatischen) Lebensgrundlage geben schließlich wenig Anlass zur Hoffnung, dass unsere Reise ein anderes Ziel haben wird als den finsteren Hades.
Der Witz von Monika Rincks "Höllenfahrt" liegt nun aber gerade darin, dass sie die Konturen dieser Hölle nicht farbig und dantesk ausphantasiert; sie findet die Hölle vielmehr bereits in der Sprache der Bürokratie, in unserer akribisch ausformulierten und exakt reglementierten Selbstauslöschungsplänen vorgeprägt. Kurz: in den "144 beschleunigten Straßenprojekten der Bundesregierung". Dieses Verzeichnis bildet die stabile Mittelspur von "Höllenfahrt & Entenstaat".
Nach Bundesländern eingeteilt, erfährt der interessierte Lyrikleser, wie immer wieder "vordringlicher Bedarf mit Engpassbeseitigung" geltend gemacht wird, sei es am Autobahnkreuz Heidelberg oder am Autobahnkreuz Weinsberg ("es möge erblühen!"). Nicht die heilige Einfalt, sondern die "Heilige Einfahrt!" steht hier im Mittelpunkt. Vor allem in Baden-Württemberg gibt es viel zu tun, da muss das lyrische Ich raffen und die Sachlage zusammenfassen: "Weg mit dem Ideal der unverletzten Erde! Dies is going to be tief! Bayern A8/A8, Autobahnkreuz München - das kann ich alles sehr schnell mit der Sprache machen und jetzt stellen Sie sich vor, das nicht mit der Sprache, sondern mit der Straße zu machen, mit Bitumen und Guss-Asphalt oder einem anderen visionären Fahrbahnbelag."
Straßenbau und Strophenbau - die Visionen unterscheiden sich doch beträchtlich. Träumt man auf der einen Seite von Feinstaubverringerung und Dämpfung des Reifen-Fahrbahn-Geräuschs, hört man auf der anderen Seite eine Zukunft heranrauschen, deren Schrecken sich nicht in quietschenden Bremsen erschöpft. Nur im Norden hält sich der mit Ausrufezeichen gespickte Irrsinn in Grenzen: "Das war es schon", heißt es nach einer halben norddeutsch-trockenen Seite: "Mehr gibt es nicht in Niedersachsen."
Apropos Erschöpfung: Monika Rincks gleichermaßen erschreckende wie schreiend komische Bestandsaufnahme unserer mobilen Gesellschaft nimmt zugleich die Kehrseite des Geschwindigkeits- und Optimierungswahns in den Blick, und zwar in Gestalt des "Müden", der in Form einer Musenanrufung immer wieder adressiert wird: "Ich grüße dich, Müder/ Denn der Müde bist du. Fast noch am Leben. / Knöcheltief im hellen Mehl auf Ebenen / wirst du stehen, lange warten, dich biegen. // Auf einem endlosen Parkdeck, ruhend wie der Verkehr."
Der Müde. Das ist die Verkörperung der Müdigkeit in uns allen, der Erschöpfung angesichts einer komplexen, kaum mehr handhabbaren Gegenwart. Existentielles Pathos hat bei Rinck freilich keine Chance. So vehement ihre Verse auch sind, sind sie immer wieder auch ironisch gebrochen. Diese Sprechhaltung kulminiert, wenn man so will, in der den Band abschließenden und als "Oper" titulierten Groteske "Der Entenstaat". Hier blicken wir nicht als ferngesteuerte Verkehrsteilnehmer und Burn-out-Patienten in den lyrischen Spiegel, sondern als tropfnasige und treudoofe Bewohner eines teutschen Entenhausen: "An Donnerstagen kann man das Entenorakel alles fragen. / Alles. Auch Todesdaten. Triagefragen. Germanische Sagen. / Kwaack, Krawtz, Kwak. Es gibt nichts, das Enten nicht verraten. / Allerdings verraten Enten all das in ihrer endogenen Entensprache. / Etwas anderes war in diesem Garten nun auch nicht zu erwarten."
Es ist ein seltsames Land, in dem wir leben. Ein Land, dass an seinen eigenen Verordnungen zu ersticken droht, lange bevor uns der Treibhauseffekt den Gar- aus macht. Die wahre Gefahr aber, so meinen viele, gehe nicht von ungeschützter Sonneneinstrahlung aus, nein, ein ganz anderer, viel mächtigerer Stern geht auf uns nieder "wie Hagel auf Bottrop": "Es ischt DER GENDERSTERN!"
Man möchte schreien vor Lachen und schreien vor Verzweiflung bei der Lektüre von Monika Rincks "Höllenfahrt & Entenstaat". Man fühlt sich und die eigene Zeit aufs Innerste getroffen. Überflüssig zu sagen, dass Rincks ebenso tänzerische wie kämpferische Gedichte nicht mit Benzin und auch nicht mit Strom laufen, sondern mit "Mayröckers Musikantrieb" samt eingebautem "Keilriemen Haydn". Geschmeidige Tempowechsel, klanglich astreine Kurvenlage, unschlagbare Entertainment-Einheit: Im Grunde wirkt noch der flotteste Rennwagen gegen diese Verse bräsig und lahm. TOBIAS LEHMKUHL
Monika Rinck: "Höllenfahrt & Entenstaat". Gedichte.
Kookbooks, Berlin 2024. 89 S., br.
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