Potenzial in der Unterschiedlichkeit neurodivergenter Kinder sehen

Saskia Niechzial


Saskia Niechzial ist Grundschulpädagogin, Bestsellerautorin und dreifache Mutter. Sie wurde durch ihren Blog www.liniert-kariert.de und ihren gleichnamigen Instagram-Account bekannt, dem fast 200.000 Leser:innen folgen. Auch als Expertin für Bildung und Neurodivergenz ist sie vielen Eltern vertraut.

Interview mit Saskia Niechzial

Ich kann Eltern nur ermutigen, auf die eigene Stimme zu vertrauen


Die Grundschullehrerin, bekannte Bildungsaktivistin und Autorin Saskia Niechzial plädiert dafür, in der Unterschiedlichkeit neurodivergenter Kinder Potenzial zu sehen.

Frau Niechzial, die wunderbare Wilma Wolkenkopf, die Protagonistin Ihrer Kinderbücher, ist ein Kind mit Zippelzappelhänden und Sausegedanken. Sie ist ein neurodivergentes Kind. Was versteht man allgemein darunter?
Neurodivergenz ist eine Art Sammelbegriff, der viele Ausprägungsformen wie z.B. AD(H)S, das Autismusspektrum oder Legasthenie vereint. Es ist ein relativ junger Begriff, der es möglich machen soll, positiv über die vorhandene Vielfalt zu sprechen, mit der unsere Gehirne denken, wahrnehmen und fühlen. Lange Zeit wurde Verhalten von Kindern, die aus dem gängigen Erwartungsrahmen fallen, defizitär betrachtet, teils sogar als Krankheit betitelt. Und damit war die Haltung klar: "Das ist nicht gut, das müssen wir wegkriegen." Heute erkennt man neurologische Vielfalt besser an. Und ebnet damit den Weg, in dieser Unterschiedlichkeit auch das Potenzial zu sehen. Und genau das sollen Bücher wie Wilma Wolkenkopf neurodivergenten Kindern vermitteln - dass da auch ein besonderer Schatz in ihnen steckt.

Sie haben ja spät, nach Ihrer Schulzeit, eine AD(H)S-Diagnose erhalten. Wie viel von Saskia steckt in Wilma?
Meine Geschichte und auch die Geschichten so vieler Schulkinder, die ich als Lehrerin bisher begleiten durfte, stecken in jedem einzelnen Satz. Es gibt in dem Buch z.B. eine Szene, in der sich Wilma, überfordert von einer reizintensiven Situation, vor dem Klassenraum unter ihrer Jacke versteckt. Genau an der Stelle saß ich selbst einmal. Das macht Wilmas Erzählung so echt und nahbar. Gleichzeitig war mir eines ganz wichtig: Wilmas Potenzial zeigen. AD(H)S macht manches anstrengend, aber bringt auch besondere Stärken mit sich. Und damit Wilma diese gut erkennen kann, habe ich ihr die Menschen an die Seite gestellt, die ich selbst als unerkannt neurodivergentes Kind gebraucht hätte wie z.B. eine unterstützende Therapeutin oder eine verständnisvolle Lehrkraft.

Wie zeigt sich AD(H)S im frühen Kindesalter und was können Eltern tun, wenn sie diese Anzeichen bemerken?
Es gibt nicht DAS Kind mit AD(H)S. Manchmal sind die Anzeichen sehr dezent, weil viele Kinder ziemlich gut darin sind, sich anzupassen und nachzuahmen. Das gilt vor allem für Mädchen, wie erst kürzlich mehr in den Blickpunkt geraten ist. Hier richten sich viele Merkmale eher nach innen in Form starker Gedankenströme oder Ängste, während es bei Jungen eine stärkere Tendenz für nach außen gerichtete und darum stärker beobachtete Verhaltensweisen gibt, auch wenn das natürlich nicht pauschal zutrifft. Meine Erfahrung ist aber ganz klar, dass viele Eltern früh ein sehr gutes Bauchgefühl dafür haben, dass das eigene Kind vielleicht mehr oder eine andere Form der Begleitung braucht. Dass sie beispielsweise auf deutlich mehr Unterstützung in der Regulierung ihrer Gefühle angewiesen sind. Oder dass Schlaf auch nach der Kleinkindphase ein zentrales Thema bleibt. Ich kann Eltern nur ermutigen, auf die eigene Stimme zu vertrauen und sich z.B. in der kinderärztlichen Praxis ersten Rat zu suchen oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Heutzutage bieten auch viele Inhalte auf Social-Media Plattformen Möglichkeiten für Austausch

Auf Ihrer Website schreiben Sie: "Ich bin seit vielen Jahren Grundschullehrkraft mit Herz und auf Augenhöhe. (...) Ich möchte etwas verändern. Möchte Staub vom Schulsystem pusten, mehr Licht und mehr Vielfalt hineinlassen." Wenn Sie die Möglichkeit hätten, an einem Grundschulkonzept mitzuwirken, welche Punkte würden Sie dort unbedingt unterbringen?
Ich glaube, dass wir schon wirklich viel damit bewegen können, wenn wir unsere Haltung als Lehrkraft ändern. Und dieser Schritt muss vor jedem Konzept erfolgen. Sehe ich in Heftkritzeleien ein Desinteresse des Kindes oder doch vielmehr den kooperierenden Versuch, die Konzentration zu halten? Vermute ich hinter der Mütze auf dem Kopf sofort die Provokation oder doch eher einen möglichst unauffälligen Weg, sich kurz abzuschirmen? Wenn wir hinter solchem (vor allem neurodivergenten) Verhalten unserer Schulkinder stets die negative Intention suchen und es darum unterbinden wollen, dann wird es schwerfallen, lernförderliche Konzepte zu entwerfen. In einem zweiten Schritt tun wir dann schon viel, wenn wir bei der Gestaltung der Lernumgebung und unserer Klassenräume möglichst viele Persönlichkeiten und Lerncharaktere mitdenken und damit die Lernchancen für deutlich mehr Kinder erhöhen. Und weil das ein sehr hoher Anspruch an Lehrkräfte ist, würde ich mir nebst zeitgemäßer, inklusiver Konzepte vor allem mehr Personal an Schulen wünschen, damit wir wirklich wertvolle Begleitungsarbeit leisten können.

Die Elternratgeber von Saskia Niechzial

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Jedes fünfte Kind hat eine Diagnose oder einen Verdacht auf ADHS, Hochbegabung, Legasthenie, Dyskalkulie, Autismus, Dyspraxie oder AVWS. Dieses Buch unterstützt Eltern dabei, die Stärken neurodivergenter Kinder zu erkennen und zu fördern. Was ist zu tun, wenn das Kind sich falsch fühlt, wenn es überfordert ist von seinem »Gefühlsvulkan« oder wenn es in der Schule nicht mitkommt? Kompetent, verständnisvoll und sehr persönlich (auch zwei ihrer Kinder und sie selbst sind neurodivergent) unterstützt die bekannte Grundschulpädagogin Saskia Niechzial Eltern mit Hilfen für Familienleben, Kindergarten und Schule sowie Hintergrundwissen zu jeder Diagnose. Sie zeigt ihnen, wie sie das Selbstbild und die Selbstständigkeit ihrer Kinder unterstützen können und wo und in welchen Netzwerken und Anlaufstellen sie Informationen zu Therapiewegen, Medikamenten und Fördermöglichkeiten finden. Auch für Lehrpersonen bietet sie Rat und Unterstützung.
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